Paris. Französische Jugendliche protestieren gegen soziale Missstände und Präsident Hollande. Ihr Ziel: der radikale Wandel der Gesellschaft.

Es schwebt ein Hauch von Revolution über der Pariser Place de la République. Schon seit zwei Wochen versammeln sich dort des Nachts Hunderte meist junge Menschen, diskutieren, bilden kleine Kreise um wechselnde Redner, hören Rap- und Technomusik, tanzen ein wenig und rauchen viel – keineswegs nur Zigaretten. Nuit debout (Nacht im Stehen) nennen sich diese von Schülern und Studenten angeschobenen Protestveranstaltungen, auf denen soziale Missstände angeprangert und ein radikaler Wandel der Gesellschaft eingefordert werden.

Wie groß der Graben zwischen diesen Platzbesetzern und der Regierung sowie dem rekordverdächtig unpopulären Präsidenten ist, zeigte sich am Donnerstagabend. In einer Fernsehsendung zur besten Sendezeit versuchte Hollande, seine Reformen zu verteidigen und den Jugendprotesten die Spitze zu nehmen. Zumindest Letzteres scheiterte kläglich. Empörte Zwischen- und Buhrufe schallten über die Place de la République, wo an die Tausend Jugendliche die TV-Debatte live verfolgten, als der Präsident erklärte, dass es dem Land zwar nicht gut, aber besser ginge seit seinem Amtsantritt: „Es gibt Wachstum, weniger Steuern, höhere Margen für Firmen, mehr Kaufkraft für die Arbeitnehmer.“

Studenten rufen zum Marsch zum Elysée-Palast auf

Wenig später kochte der Unmut über. Da hatte Hollande die hohe Jugendarbeitslosigkeit von über 25 Prozent mit dem objektiv falschen Hinweis beschönigt, dass sie immerhin noch unter dem EU-Durchschnitt läge (der in Wahrheit sechs Punkte niedriger ist). Dem Aufruf einiger Studenten, zum Elysée-Palast zu marschieren und dem Präsidenten dort ihre Meinung zu geigen, folgten spontan an die 300 Demonstranten. Als die Einsatzpolizei den Zug mit einem Großaufgebot stoppte, kam es zu straßenschlachtähnlichen Szenen, einige Geschäfte wurden geplündert.

Auf der Place de République kam es zeitgleich ebenfalls zu Ausschreitungen. Weil Aktivisten Wurfgeschosse auf die Polizisten schleuderten, setzten diese Tränengas ein, um die Veranstaltung zu sprengen. Obwohl sich in den vergangenen Tagen schon mehrfach Krawallmacher unter die Debattierenden gemischt hatten, war es das erste Mal, dass eine Nuit debout in offener Gewalt mündete.

Bislang blieben Nachtwachen friedlich

Bislang nämlich fanden die Nachtwachen durchweg in einer friedlichen Atmosphäre statt, die auch vor der Fernsehsendung noch herrschte. Oder in der Nacht zuvor, als etwa Christine dieser Redaktion erklärte, dass „die Politiker sich den wirklichen Problemen überhaupt nicht mehr annehmen wollen“. Die 24 Jahre alte Studentin trug ein Schild um den Hals, auf dem in großen Buchstaben „Freiheit provisorisch, Gleichheit lachhaft, Brüderlichkeit zufällig“ steht. In Frankreich, so erklärt sie ihren Zuhörern, herrsche nur noch eine Illusion von Demokratie. In Wirklichkeit seien es die Wirtschaft, die Lobbys und die Banken, die den Ton angäben und die die gewählten Volksvertreter an der Leine führten.

Andere Gesprächskreise, andere Themen. Um Umweltschutz geht es da, um eine humanere Aufnahme von Flüchtlingen, um die „überfällige Reform“ des Wahlsystems, um die Panama Papers, gegen den Ausnahmezustand und die Antiterrorgesetzgebung, um die hohe Jugendarbeitslosigkeit, ja sogar um das neue Prostitutionsgesetz. Wer da nach einer Synthese sucht, wird sie noch am ehesten in dem von beinahe allen Platzbesetzern geteilten Gefühl finden, in einer blockierten Gesellschaft zu leben.

Beginn einer großen antikapitalistischen Protestbewegung?

Die Medien fragen sich, ob Frankreich gerade den Beginn einer großen antikapitalistischen Protestbewegung erlebt, wie sie die USA mit Occupy Wall Street gekannt haben, oder wie in Spanien, wo sich die Indignados gegen die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse auflehnten. Aber selbst wenn die Teilnehmer an den Nuit debout durchweg mit der Linken sympathisieren, wollen sie sich nicht politisch einordnen lassen, haben (noch) kein gemeinsames Programm, keine über die jeweilige Nacht hinausreichende Strategie und keine Anführer.

Entstanden ist Nuit debout im Umfeld des Widerstands gegen die Arbeitsrechtsreform, mit der die Regierung den Kündigungsschutz und die 35-Stunden-Woche lockern will. Nach einem landesweiten, von Gewerkschaften, Schüler- und Studentenverbänden organisierten Protesttag am 31. März gingen viele Demonstranten einfach nicht nach Hause, sondern besetzten die symbolträchtige Place de la République. Seither sind sie nicht nur jeden Abend zurückgekommen, sondern haben mittlerweile auch Nachahmer in rund 100 weiteren französischen Städten gefunden.

Jeden Morgen rückt die Polizei an

In Paris hat sich bereits ein regelrechtes Ritual entwickelt. Jeden Tag rückt in den frühen Morgenstunden die Polizei an, um die letzten Protestler nach Hause zu scheuchen. Danach beseitigen Reinigungskolonnen die Überreste des nächtlichen Treffens, dessen Neuauflage wenige Stunden später bei den Behörden offiziell beantragt und bislang noch jedes Mal genehmigt wurde. Allerdings mündete schon am vergangenen Wochenende das Vorhaben mehrere Aktivistengruppen, dem Domizil des Regierungschefs einen nächtlichen Besuch abzustatten, in eine Straßenschlacht mit der Polizei.

Die etablierte Politik weiß derweil nicht so recht, wie sie auf die Bewegung reagieren soll. Während die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo erklärte, es sei „legitim, von einer besseren Welt zu träumen“, versprach Premierminister Manuel Valls, bei der Arbeitsrechtsreform speziell jungen Arbeitssuchenden entgegenzukommen.

Aufforderungen konservativer Politiker, die Nuit debout schon allein wegen der prekären Sicherheitslage endlich zu verbieten, werden von der sozialistischen Regierung bislang beflissentlich überhört. Zu groß ist die Angst, dass ein Verbot die Stimmung kippen lässt und eine regelrechte Jugendrevolte provoziert.