Berlin. Ob nach dem Erdogan-Gedicht ein Verfahren gegen Böhmermann eröffnet wird, ist unklar. Die Bundesregierung schiebt die Entscheidung auf.

Was darf Satire? Der bekannte Schriftsteller Kurt Tucholsky hatte eine klare Haltung: Satire darf alles. Er sagte das 1919 – kurz nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges und zu Beginn der Weimarer Republik. Fast einhundert Jahre später debattiert die Republik wieder darüber, wo Meinungsfreiheit noch Satire ist und wo schon Beleidigung. Grund: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan fühlt sich beleidigt von einem Gedicht des Satirikers Jan Böhmermann im ZDF. Erdogan verlangt ein Verfahren gegen Böhmermann vor einem deutschen Gericht. Er stellte am Montag über eine Anwaltskanzlei auch selbst Strafantrag wegen Beleidigung, wie die Staatsanwaltschaft Mainz am Abend mitteilte. Dieser Strafantrag werde in dem bereits anhängigen Verfahren geprüft. Vizeministerpräsident Numan Kurtulmus warf Böhmermann gar vor, mit dem Gedicht ein „schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ begangen zu haben.

Dessen Late-Night-Show wird zu einem Fall internationaler Diplomatie – und das in einer Zeit, in der die EU unter Führung von Deutschland gerade ein Abkommen mit der Türkei geschlossen hat, das den Andrang von Geflüchteten nach Europa bremsen soll. In der Causa Böhmermann geht es um Freiheit und Grenzen der Kunst, um knallharte Interessenpolitik – und um die Frage: Muss Böhmermann vor Gericht?

Worum geht der Streit?

Am 31. März sendet Böhmermann wie gewohnt seine Show „Neo Magazin Royale“ – und widmet Autokrat Erdogan ein Gedicht: „Sackdoof, feige und verklemmt – ist Erdogan, der Präsident“, heißt es darin in den harmlosen Passagen. Böhmermann nennt Erdogan auch „pervers, verlaust und zoophil“. Der Satiriker sagt in der Sendung vor und nach dem Gedicht selbst, das seine Zeilen Schmähkritik und keine Satire seien – und damit in Deutschland nicht erlaubt. Er gibt sich selbst als Erklärer in einer laufenden Debatte. Denn: Ein paar Tage zuvor hatte die türkische Regierung den deutschen Botschafter in Ankara einbestellt. Der Grund: Die Satiresendung „Extra 3“ belustigt sich in dem Lied „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ über die Türkei. Böhmermann setzte der Debatte eine provokante Spitze auf. Nun prüft die Bundesregierung Erdogans Forderung nach Strafverfolgung. Die Ermächtigung eines Gerichts durch die Bundesregierung sieht in Fällen der „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“ der Paragraf 104a im Strafgesetzbuch vor. Es drohen eine Geldstrafe oder in extremen Fällen sogar bis zu fünf Jahre Haft.

War das Gedicht Satire?

Darüber gehen die Meinungen der Experten auseinander. So sagt der Kölner Medienanwalt Ralf Höcker im Gespräch mit unserer Redaktion: „Es gibt keinen Zweifel.“ Das Gedicht sei „keine zulässige Satire, sondern Schmähkritik“. So hat Böhmermann selbst sogar sein Gedicht betitelt. Höcker aber sieht in dessen „satirischem Erklärstück“ nur den Trick, Beleidigungen zu kaschieren. Denn anstatt „ein knappes instruktives Beispiel für eine rechtswidrige Schmähkritik zu geben, zelebriert er eine Minute lang eine Beleidigungsorgie gegen Erdogan“.

Anders sieht das etwa der Medienwissenschaftler Wolfgang Mühl-Benninghaus von der Humboldt-Universität zu Berlin. „Der Rahmen der Sendung im ZDF ist klar als Satiresendung definiert – und auch Böhmermann selbst ist bekannter Satirekünstler“, sagt der Professor dieser Zeitung. Deshalb sei auch Böhmermanns vermeintliche Schmähkritik-Erklärung als Satire zu sehen. „Es mag sein, dass der türkische Präsident das Gedicht als Beleidigung empfindet. Das ist aber sein subjektives Gefühl.“ Daraus würden sich keine rechtlichen Ansprüche ergeben, so Mühl-Benninghaus. Etwas anderes wäre es nach Paragraf 103, würde ein Politiker in einer Rede Erdogan etwa als „zoophil“ bezeichnen. „Das wäre Schmähkritik.“

Was sagt das Gesetz?

Die freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst sind in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben. Satire als eine Form der Kunst darf verzerren, übertreiben, verfremden. Doch auch für sie gelten Grenzen, wenn Menschen beleidigt werden. Berühmt ist etwa das sogenannte Strauß-Urteil von 1987: Eine Karikatur, die den Politiker als kopulierendes Schwein darstellte, war demnach nicht von der Kunstfreiheit gedeckt. Berühmt wurde auch das Zitat „Soldaten sind Mörder“ von Tucholsky: Der Satz gilt als pauschales Werturteil und ist erlaubt. Die Aussage „Soldat Max Mustermann ist ein Mörder“ hingegen, kann als Schmähkritik aufgefasst werden.

2012 versuchte der Vatikan, juristisch gegen ein Papst-Titelbild der Satirezeitschrift „Titanic“ vorzugehen. Das Cover der Juli-Ausgabe zeigte Papst Benedikt XVI. – inkontinent, mit einem großen gelben Fleck auf der Soutane. Dazu lautete der Titel in Anspielung auf den „Vatileaks“-Skandal um den Verrat von internen Dokumenten: „Die undichte Stelle ist gefunden“. Der Papst erwirkte eine einstweilige Verfügung, die weitere Verbreitung des Bildes wurde verboten. Die „Titanic“ legte Widerspruch ein und der Vatikan zog die Verfügung zurück. Trotz vieler Fälle gibt es keinen Grundsatz darüber, was Satire darf. Der Einzelfall entscheidet.

Was hat der Flüchtlingsdeal mit Böhmermann zu tun?

Böhmermanns Kritik fällt in eine Zeit, in der die Abschiebung von Geflüchteten von den griechischen Inseln in die Türkei beginnt. Für die EU ein wichtiger, aber auch heikler Deal – denn er funktioniert nur, wenn die Türkei mitmacht. Wer mit Regierungsbeamten und Behördenmitarbeitern spricht, spürt nun selbst im Hintergrundgespräch Vorsicht, geht es um Kritik an Erdogan. Offiziell heißt es, das Abkommen habe keinen Einfluss auf Kritik an Menschenrechtsverletzungen oder Zensur in der Türkei. Unabhängig davon sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zunächst nur, sie habe das Gedicht als „verletzend“ empfunden.

Manche in der Opposition sehen in der Haltung der Kanzlerin dagegen einen Beleg dafür, dass sich Deutschland mit dem Flüchtlingsdeal „erpressbar“ mache. Und nun wohlwollend auf Erdogan reagiere. Gestern reagierte Regierungssprecher Steffen Seibert auf die Kritik an Merkel. Die Kanzlerin wolle „unmissverständlich“ deutlich machen, dass der Artikel 5 des Grundgesetzes über die Freiheit der Meinungsäußerung, der Kunst und Wissenschaft „selbstverständlich höchstes Gut“ sei, er sei „weder nach innen noch nach außen verhandelbar“. Egal, wie die Kanzlerin das Gedicht empfunden habe.

Wie entscheidet die Regierung?

Bisher laufen die Debatten in Berlin hinter verschlossenen Türen. Federführend ist das Auswärtige Amt. Gestern vertagte sich die Runde von Staatssekretären ergebnislos. Der Fall ist so brisant, dass die Entscheidung wohl in den kommenden Tagen das Kanzleramt treffen wird. Die Staatsanwaltschaft in Mainz, wo das ZDF sitzt, ermittelt bereits. Um nach einer Ermittlung Anklage zu erheben, müsste die Bundesregierung ihr Einverständnis geben. Stoppt Merkel die Justiz, vergrault sie die Türken. Wäscht sie ihre Hände in Unschuld, riskiert sie eine innenpolitische Debatte über die Meinungsfreiheit. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) beugt vor: „Ich glaube, dass gerade die Kanzlerin keinen Nachholbedarf hat, wenn es um das Eintreten für unsere Werte geht. Nicht nur gegenüber der Türkei, sondern gegenüber vielen Ländern in der Welt“, sagte er unserer Zeitung. „Für uns war und ist die Pressefreiheit niemals verhandelbar.“

Wie reagiert das ZDF?

Das ZDF will Böhmermann die Treue halten. Dessen „Neo Magazin Royale“ stehe nicht zur Disposition, teilte der Sender mit. „Die Sendung wird wie bisher fortgeführt.“ Das strittige Gedicht hatte das ZDF jedoch nach der Sendung aus seiner Onlinemediathek entfernt. Böhmermann, der am Freitag für eine frühere Satireaktion („Varoufake“) in Abwesenheit den Grimme-Preis erhielt, hält sich seit Tagen aus der öffentlichen Diskussion heraus. Privat wandte sich Böhmermann an Kanzleramtsminister Altmaier, bat ihn in einer Mail um Hilfe. Die Mail sei privat, sagte der Amtschef dieser Redaktion – und schweigt zu Details.