Brüssel/Berlin. Die EU feilscht mit der Türkei: Doch selbst bei einem Kompromiss zur Eindämmung der Flüchtlingskrise ist die Umsetzung kaum zu stemmen.

Mit Spannung blickt Europa auf den zweitägigen EU-Türkei-Gipfel in Brüssel, der am Donnerstag begonnen hat. Das Spitzentreffen der 28 Staats- und Regierungschefs, an dem heute auch der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu teilnimmt, soll einen Durchbruch bei der Lösung der Flüchtlingskrise bringen. Zwar sickerte Donnerstagabend durch, dass die EU 72.000 syrische Flüchtlinge auf freiwilliger Basis aufnehmen will. Doch dabei handelt es sich um einen Aufguss alter Beschlüsse vom Juli beziehungsweise September 2015.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartete „intensive Beratungen“. EU-Ratspräsident Donald Tusk warnte vor Euphorie. „Ich bin vorsichtig optimistisch, aber ehrlich gesagt eher vorsichtig als optimistisch“, sagte Tusk vor Beginn der Gespräche. Skeptisch äußerte sich die litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite: „Ich verstehe und unterstütze einen Teil der Kritik, denn ich denke, dass das vorgeschlagene Paket sehr kompliziert ist, die Umsetzung wird sehr schwierig sein, und es ist am Rand internationalen Rechts.“

Ein großes politisches Gegengeschäft

Geplant ist ein großes politisches Gegengeschäft, das im Grundsatz bereits am 7. März festgezurrt wurde. Die Kernpunkte: Die Türkei nimmt ab einem bestimmten Zeitpunkt illegale Migranten von den griechischen Inseln zurück. Für jeden abgeschobenen Syrer bringt die EU im Gegenzug einen legalen syrischen Flüchtling aus der Türkei unter. Die Regierung in Ankara verpflichtet sich, schärfer gegen illegale Schleuser vorzugehen und die Außengrenzen besser zu kontrollieren. Dafür bekommt sie insgesamt sechs Milliarden Euro von der EU. Ferner erhält die Türkei Visaerleichterungen bei Reisen in die EU sowie langfristig eine Perspektive für den Beitritt in die Gemeinschaft.

Selbst wenn sich die EU mit der Türkei auf ein Kompromisspapier einigen sollte: Der Klub der 28 Staaten ist derart gespalten, dass ein Paket zum Scheitern verurteilt ist.

Flüchtlingstausch als zentrale Forderung

Die Gleichung für den Flüchtlingstausch – illegaler syrischer Flüchtling aus Griechenland gegen legalen syrischen Migranten aus der Türkei – geht nicht auf. Die rechtlichen und praktischen Voraussetzungen für das System sind bislang nicht gegeben. So müsste die Türkei die Bedingungen für eine Anerkennung als „sicherer Drittstaat“ erfüllen. Und Griechenland müsste mit den Einrichtungen zur Schnellabwicklung ausgestattet werden.

Das EU-Recht knüpft die Abschiebung in „sichere Drittstaaten“ an eine ganze Reihe von Bedingungen. Das geht nur, wenn im Zielland keine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht und der Flüchtling dort seinen Schutzanspruch auch wirklich geltend machen kann. Für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kommt eine Anerkennung der Türkei als „sicherer Staat“ nicht in Frage. „Sie ist schlicht für niemanden sicher – auch nicht für syrische Flüchtlinge.“

Bremsklötze gegen eine automatische Abschiebung

Weiterer Bremsklotz gegen eine automatische Abschiebung: Asylbewerber haben Anspruch darauf, dass Griechenland ihren Einzelfall prüft. Eine Ausweisung könnten sie verhindern, wenn die Türkei für sie doch nicht sicher ist. Sie müssen nur die Möglichkeit haben, ihr Anliegen auch vor Gericht zu bringen. Syrische Kurden könnten zum Beispiel auf den Konflikt zwischen der Regierung in Ankara und der kurdischen Minderheit in der Türkei verweisen. Im Zweifel würde ein griechisches Gericht die Frage dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorlegen. Menschenrechtsorganisationen könnten solche Klagen unterstützen. Bis zu einer Entscheidung kann viel Zeit vergehen. Länder wie Spanien fordern, dass das Recht auf Asyl auf keinen Fall zur Disposition gestellt werden dürfe.

Darüber hinaus ist fraglich, ob die Türkei tatsächlich alle illegalen Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufnehmen würde. Bereits seit 2002 ist ein griechisch-türkisches Rücknahmeabkommen in Kraft, das jedoch bislang wenig bewirkt hat. Im vergangenen Jahr stellten die griechischen Behörden knapp 9700 Anträge auf Rückführungen von illegalen Migranten an die Türkei, doch die lehnte mehr als 90 Prozent davon ab. Nur in 470 Fällen erklärten sich die Behörden bereit, Personen zurückzunehmen. Vollzogen wurde die Abschiebung aber nur in sechs Fällen.

Faire Verteilung

Die große und bislang ungelöste Frage: Welche Länder erklären sich bereit, im Rahmen des EU-Türkei-Deals legale syrische Flüchtlinge aufzunehmen? Hier herrscht bislang vornehmes Schweigen. Die bereits im September vereinbarte EU-weite Verteilung von 160.000 Migranten erwies sich bislang als Fiasko. Gerade mal 500 Flüchtlinge kamen unter.

Bundeskanzlerin Angela Merkel setzte bislang auf eine „Koalition der Willigen“. Doch wer sich dahinter verbergen soll, ist unklar. Frankreich hat deutlich gemacht, dass es innerhalb von zwei Jahren 30.000 aus dem im September vereinbarten EU-Kontingent von 160.000 Migranten aufnehmen werde - das sei die absolute Obergrenze. Österreich hat ein tägliches Limit von 80 Asylbewerbern festgelegt und setzt ansonsten auf strikte Grenzkontrollen. Auch die früher als liberale Einwanderungsländer geltenden skandinavischen Staaten schotten sich ab. Die Bereitschaft der osteuropäischen Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen tendiert gegen Null. Fazit: Merkels permanenter europäischer Verteil-Mechanismus ist bislang eine Luftbuchung.

Visaerleichterungen für Ankara

Für die Türkei ist das eine der wichtigsten Bedingungen. Vor allem die Aussicht, dass schon im Sommer – 1. Juli ist das Zieldatum – türkische Bürger mit Pass ohne Sichtvermerk in die EU einreisen dürfen. Dabei will die Gemeinschaft formal gar kein Zugeständnis machen. Es soll nämlich bei den Voraussetzungen bleiben, an die Brüssel grundsätzlich den erleichterten Zugang knüpft. Erst wenn Ankara die Liste der Vorbedingungen abgearbeitet habe, werde man die Visumpflicht aufheben.

Soweit die offizielle Lesart. Angesichts der politischen Umstände fehlt vielen der Glaube, dass alles streng nach den Regeln abläuft. Die 72 Punkte des Pflichtenhefts für Visaerleichterungen sind nämlich nicht ohne. Das geht von maschinenlesbaren Ausweisen mit biometrischen Daten über die Maßnahmen gegen Korruption bis zu Anpassungen des türkischen Rechts. Etwa beim Datenschutz, der Terrorismus-Abwehr oder bei Minderheitenrechten. Anfang des Monats war erst rund die Hälfte des Pflichtenhefts erledigt. Wenn der jetzt angepeilte Termin gehalten werden soll, müsste der Rest spätestens Anfang Mai abgehakt sein. Denn das müsste die EU-Kommission prüfen und förmlich bestätigen. Erst dann könnte der Ministerrat die Visafreiheit beschließen. Das ist reichlich unwahrscheinlich. Zudem gibt es mittlerweile immer mehr warnende Stimmen gegen zu große Zugeständnisse bei der Visafreiheit. Die Zusammenarbeit mit der Türkei sei unverzichtbar - „aber es kann nicht die geringste Erpressung geben“, sagt der französische Ministerpräsident Manuel Valls. Ähnlich äußerten sich Vertreter der spanischen und der österreichischen Regierung. Das klingt völlig anders als bei Kanzlerin Merkel, die die Türkei immer wieder als „Schlüsselland“ bei der Lösung der Flüchtlingskrise sieht.

EU-Beitritt

Auch das ist für die türkische Regierung langfristig ein wichtiges Ziel. In den Verhandlungen müssen allerdings 35 Kapitel abgearbeitet werden, in die der „Besitzstand“ – Gesetze und Spielregeln – der EU aufgeteilt ist. In den zehn Jahren seit Start der Gespräche ist erst ein Kapitel erledigt. 15 sind „geöffnet“, fünf weitere sollen nun zügig dazu kommen. Auch hier will die EU prinzipiell keinen Rabatt für Wohlverhalten in der Flüchtlingsfrage einräumen. Dafür mahnen immer mehr Europapolitiker, das langfristige Thema EU-Beitritt nicht mit der akuten Krise Migration zu verknüpfen.