Idomeni . Für Ärzte und Pfleger sind die Zustände an der griechisch-mazedonischen Grenze kaum zu ertragen. Auf Visite in der Container-Klinik.

Daniela Oberti wischt mit einem Tuch über die Wunde. Das Blut verschmiert auf der Stirn des kleinen Jungen aus dem Irak. Oberti tupft Salbe auf den Riss über dem Auge, der Junge zuckt zusammen. „Ah!“, ruft er leise. Das Desinfektionsmittel brennt. Dann stoppt das Bluten. Oberti weiß nicht, was passiert ist, sie spricht kein Arabisch. „Vielleicht ist er beim Spielen hingefallen“, sagt sie.

„Die Klinik“ nennen sie die kleine Praxis im Flüchtlingslager Idomeni, dem Grenzdorf. Dabei sind es nur zwei Container mit Wänden aus Blech. Zwei Ärzte arbeiten hier meist pro Schicht. Und draußen, auf den Wiesen und Feldern um die Container herum, harren mehr als 10 000 Menschen aus. Sie wollen weiter, aber die Grenze ist dicht.

Sogar Rollstuhlfahrer machen sich auf den beschwerlichen Weg

Viele von ihnen sind Kinder und Frauen, aber auch Schwangere, Ältere und sogar Rollstuhlfahrer sind geflohen. „Eigentlich haben hier alle irgendetwas“, sagt Oberti. Die 34 Jahre alte Italienerin arbeitet als Krankenschwester für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in dem Camp. In den vergangenen Jahren half sie schon in Somalia, Niger, Kongo und dem Libanon. „So schlimm wie hier war es für mich noch nie“, sagt sie. Hier in Idomeni – mitten in Europa.

Reporter Christian Unger spricht in Idomeni mit der Krankenschwester Daniela Oberti, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitet
Reporter Christian Unger spricht in Idomeni mit der Krankenschwester Daniela Oberti, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitet © Alex Yallop/MSF | Alex Yallop

Sie sage dies nicht, weil hier im Lager Epidemien ausgebrochen seien oder die Menschen verwundet werden wie in einem Krieg. Die meisten Flüchtlinge kommen mit Fieber, Husten oder Übelkeit. Daniela Oberti sagt diesen Satz, weil sie noch nie so müde Menschen gesehen habe. So frustrierte und wütende Menschen. Und weil sie noch nie so schlimme Geschichten von ihren Patienten gehört habe.

Oberti erzählt von einem Syrer mit geschwollenem Bein, Thrombose. Vor einer Woche seien ihm auf der Flucht die Medikamente ausgegangen. Was passiert sei, habe Oberti ihn gefragt. Der alte Mann erzählte von den Foltergefängnissen des Diktators Baschar al-Assad, in denen auch er gesessen habe. „Eingepfercht in einer Zelle mit etlichen anderen“, sagt Oberti. Die Männer konnten ihre Beine nicht ausstrecken und hockten da. Wochenlang. Seitdem habe der Mann das geschwollene Bein.

Nicht nur Krankheit und Gewalt setzen den Flüchtlingen zu

Die Wartebänke sind voll. Eine schwangere Frau lehnt ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes. Ein Teenager fragt nach einem Medikament. Ein kleines Mädchen hockt zwischen ihren Eltern, sie weint, sie hustet, dann erbricht sie. Oberti misst Fieber, schaut in die Ohren. „Es schreit nicht“, sagt der afghanische Dolmetscher. „Das ist schon mal ein gutes Zeichen.“

Es ist Nacht geworden in Idomeni. Ein Platzregen brachte die Menschen in der Zeltstadt zum Schweigen. In einem großen Zelt neben den Containern übernehmen nun Helfer von Ärzte der Welt die Nachtschicht. Einer von ihnen ist der spanische Arzt Miquel Ramon.

Daniela Oberti behandelt einen Patienten in der provisorischen Klinik .
Daniela Oberti behandelt einen Patienten in der provisorischen Klinik . © Alex Yallop/MSF | Alex Yallop

Er erzählt von den vielen Kindern, die in den Camps leben. Ein Problem sei oft die Pulvermilch, die Babys in den Flüchtlingslagern bekämen. Ist sie falsch zubereitet, macht sie krank. Manchmal seien die Flaschen nicht gut desinfiziert. Helfer werben bei den Müttern dafür, dass sie ihr Kind stillen. Doch mit 20 oder gar 200 Fremden im Zelt wollen das viele Frauen nicht.

Mazedonische Polizisten verprügeln zwei Jungen

Plötzlich springt die Zelttür auf. Eine Pflegerin läuft hinein. „Ein Notfall!“ Flüchtlinge tragen zwei junge Männer in den Armen. „Auf die Liege“, sagt Ramon, ein zweiter Arzt kommt dazu. Die Männer rufen. Die Jungen seien geschlagen worden von der mazedonischen Polizei. Einer von ihnen weint.

Dem anderen ziehen die Helfer die Jacke hoch, auf seinem Rücken ist die Haut rot verfärbt. Vor dem Zelt erzählen Flüchtlinge, dass der Syrer und der Iraker zuvor durch das Grenztor gelassen wurden. Nach der Kontrolle hätten die mazedonischen Polizisten ihn in ein Zelt gebracht. Auf der griechischen Seite hätten die Menschen Schreie gehört, auch Schläge. Dann seien die Männer zurück auf die griechische Seite gebracht worden.

Die griechischen Polizisten vor dem Zaun wollen dazu nichts sagen. Die Flüchtlinge sagen, dass sich die jungen Männer Tage zuvor an den Demonstrationen vor dem Grenzzaun beteiligt hätten.

Die Gewalt hinterlässt ein schweres Trauma

Es ist mittlerweile nach Mitternacht in Idomeni. Miquel Ramon kommt aus dem Ärztezelt. Er sagt, dass die beiden Männer geschlagen worden seien. Auch Spuren von Elektroschockern seien auf der Haut zu erkennen.

Derartige Fälle hätten die Ärzte bereits an die Vereinten Nationen berichtet. Eine Krankenschwester sagt, dass die Verletzungen nur eine Seite seien. „Schlimmer ist das Trauma, das diese Gewalt hinterlässt.“