Berlin. In der Flüchtlingskrise driftet Europa auseinander, eine Lösung ist nicht in Sicht. Wie sich jedes Land seine eigenen Regeln bastelt.

20 und 59.615. Es sind zwei Zahlen, die sehr viel aussagen über ein Europa in Schieflage. Über ein Europa, das auseinanderdriftet und nicht zu einer gemeinsamen Politik findet. 20 Menschen meldeten laut EU-Statistik im November 2015 Asyl in Kroatien an. 59.615 waren es in Deutschland. Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt auf eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise, auf Reisefreiheit und einen grenzenlosen EU-Binnenmarkt – trotz einer Million Menschen, die 2015 nach Deutschland einreisten. Doch Deutschland agiert zunehmend isoliert. Europäische Nachbarn schließen ihre Grenze, deckeln den Zuzug und gehen nationale Wege in der Asylpolitik – es entsteht eine neue Landkarte eines zerrissenen Kontinents.

Österreich

Österreich hat gerade angekündigt, an der Grenze zu Italien wieder Grenzkontrollen einzuführen. Eine Obergrenze hat die Regierung auch beschlossen.
Österreich hat gerade angekündigt, an der Grenze zu Italien wieder Grenzkontrollen einzuführen. Eine Obergrenze hat die Regierung auch beschlossen. © dpa | Jan Hetfleisch

Bis zuletzt war Bundeskanzler Werner Faymann Merkels stärkster Verbündeter. Doch nun gab er dem innenpolitischen Druck nach. Die Regierung in Wien will bis 2019 höchstens 127.500 Asylsuchende ins Land lassen – das entspricht 1,5 Prozent der Bevölkerung. Was geschehen soll, wenn diese Obergrenze erreicht ist, debattiert die Regierung noch. Angedacht sind etwa grenznahe „Wartezonen“, mehr Soldaten sollen zugleich die Grenze abriegeln. Asylsuchende könnten auch zurückgewiesen werden. Weiterhin will die Regierung in Wien jedoch gemeinsam mit der EU an „Hotspots“ an der EU-Außengrenze arbeiten und Quoten zur Verteilung der Schutzsuchenden in Europa durchsetzen.

Slowenien

Seit zwei Tagen nimmt der Andrang der fliehenden Menschen auf der Balkanroute deutlich ab. Doch von Entspannung ist keine Spur: Seit Jahresbeginn zählten die Behörden in Slowenien 42.000 Flüchtlinge, fast alle schickt das zwei Millionen Einwohner große Land weiter Richtung Österreich. Österreichs Obergrenze hat wie ein Dominoeffekt Auswirkungen auf alle Balkanstaaten. Aufgrund der Entscheidung will es Slowenien Österreich gleichtun und nur noch begrenzt Fliehende in das Land lassen. Rechte Parteien machen der Regierung in Ljubljana Druck. Das Land setzt Hoffnungen auf Deutschland: Die Bundesregierung werde die Grenzen nicht schließen, sagte die slowenische Innenministerin. Und entlaste so weiter auch Slowenien.

Kroatien

Wie in fast jedem Land auf der Balkanroute halten sich in Kroatien derzeit einige Hundert bis maximal einige Tausend Flüchtlinge auf. 914 Grenzübertritte waren es am Mittwoch. Die Kroaten kriegen davon wenig mit. Die Regierung schleust die Flüchtlinge in Zügen schnell durchs Land weiter in Richtung Nordeuropa. Kein Land auf dem Balkan will die Menschen bei sich „stranden“ lassen. Nach der Ansage von Obergrenzen in Österreich hat die Regierung in Zagreb bisher seine Grenzen nicht geschlossen. Die fliehenden Menschen campieren in beheizten Zelten oder Containern, manche hocken in Bussen oder Zügen. Mit einer geschlossenen Asylpolitik ist in Kroatien derzeit ohnehin nicht zu rechnen: Seit Monaten ist der Staat durch Neuwahlen gelähmt. Es wird dauern, bis sich die neuen, völlig entgegengesetzten Regierungsparteien auf einen Kurs einigen.

Ungarn

Bis zum Sommer 2015 hatte das Land sehr hohe Flüchtlingszahlen: 47.000 Menschen stellten allein im August Antrag auf Asyl – in keinem Land kamen laut Eurostat mehr Flüchtlinge auf eine Million Einwohner als hier. Dann machte Ungarn seine Grenze zu Serbien und Kroatien dicht, baute Zäune. Im Oktober ersuchten in dem Land noch 615 Menschen Asyl. Nun erwägt die umstrittene rechtsnationale Regierung auch die Grenze zu Rumänien zu schließen. Die Sorge: Machen Slowenien und Kroatien ihre Grenzen dicht, könnten die Wege der Migranten in Richtung Westen vermehrt über Rumänien führen – und eben über Ungarn.

Griechenland und Italien

Flüchtlinge strömen aus einem Schiff im Hafen von Piräus. 35.000 Menschen sind in diesem Jahr bislang in Griechenland angekommen.
Flüchtlinge strömen aus einem Schiff im Hafen von Piräus. 35.000 Menschen sind in diesem Jahr bislang in Griechenland angekommen. © REUTERS | ALKIS KONSTANTINIDIS

2016 kamen bisher auf den griechischen Inseln nahe der Türkei 35.000 Menschen an. In den Plänen der EU haben Griechenland und Italien als Mittelmeerstaaten eine zentrale Rolle: Auf den Inseln sollen Auffanglager entstehen, Beamte nehmen Fingerabdrücke, Schutzsuchende werden dann in der EU verteilt. Doch bisher arbeiten nur drei von elf geplanten „Hotspots“. Und die Verteilung in andere EU-Staaten ist grotesk: 322 Flüchtlinge konnte die EU umverteilen – von geplanten 160.000. Nun kündigte der griechische EU-Kommissar für Migration an: In wenigen Wochen sind alle „Hotspots“ einsatzbereit. Doch in Athen und Rom wächst die Sorge: Ist bis dahin keine Verteilung innerhalb der EU geregelt, würden die Staaten zum „Auffanglager Europas“. Seit Jahresbeginn sind wieder Dutzende Menschen auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertrunken.

Schweden

Im Verhältnis zur Einwohnerzahl hat das Land noch mehr Menschen aufgenommen als Deutschland. Lange machte die Regierung eine liberale Asylpolitik. Doch seit November kontrolliert Schweden seine Grenzen, lässt weniger Flüchtlinge ins Land und hat ein Abkommen mit nordafrikanischen Staaten wie Marokko geschlossen, um Asylsuchende dorthin abzuschieben. Schweden fehlen Unterkünfte – und die Sorge wächst, dass viele unregistrierte Asylsuchende aus Deutschland etwa per Fähre über Rostock weiter nach Schweden ziehen.

Dänemark

Dänemarks Regierung lobt sich inzwischen für die „schärfsten Asylgesetze“. Nachdem Schweden Kontrollen an der Grenze intensivierte, zog Dänemark an der Grenze zu Deutschland nach.
Dänemarks Regierung lobt sich inzwischen für die „schärfsten Asylgesetze“. Nachdem Schweden Kontrollen an der Grenze intensivierte, zog Dänemark an der Grenze zu Deutschland nach. © dpa | Palle Peter Skov

Ein Dominoeffekt wie auf dem Balkan zeigt sich auch im Norden Europas. Auf Grenzkontrollen in Schweden reagierte auch das einst ebenso liberale Dänemark und patrouilliert seit Januar verschärft an der Grenze zu Deutschland, um den Zuzug von Flüchtlingen einzuschränken. Mittlerweile preist sich die rechtsliberale Regierung mit den „schärfsten Asylgesetzen“ im Vergleich zu den Nachbarn. Im November kündigte sie gleich 34 Maßnahmen zur Verschärfung der Ausländerpolitik an. Vor allem die extrem rechte Dänische Volkspartei heizt die Debatte an.

Großbritannien

Jeder Druck durch die EU auf das Königreich ist momentan heikel. Der britische Premierminister David Cameron hat versprochen, die Bürger bis 2017 über einen Verbleib des Landes in der EU abstimmen zu lassen. Vorher will Cameron das Verhältnis mit Brüssel neu aushandeln – und nutzt die Krise für seine Ziele. Cameron will den Zuzug von Einwanderern aus der EU begrenzen: Dafür strebt er an, Zuwanderern auch aus Europa bestimmte Sozialleistungen erst nach vier Jahren zu zahlen. In der EU ist das umstritten – es gilt die Gleichbehandlung aller Bürger Europas. Doch auch Cameron weiß: England ist Ziel vieler Menschen auf der Flucht. Tausende hausen derzeit im französischen Calais trotz Kälte in einem Slum-Lager. Nachts versuchen sie, England durch den Eurotunnel zu erreichen.

Frankreich

Französische Polizisten in einem Lager, in dem die Menschen auf die Möglichkeit zur Weiterreise nach Großbritannien ausharren. Der Terror von Paris und die Wahlerfolge des Front National haben Frankreich in der Asylpolitik von Deutschland entfernt.
Französische Polizisten in einem Lager, in dem die Menschen auf die Möglichkeit zur Weiterreise nach Großbritannien ausharren. Der Terror von Paris und die Wahlerfolge des Front National haben Frankreich in der Asylpolitik von Deutschland entfernt. © dpa | Stephanie Lecocq

Die Terroranschläge von Paris und die hohe Zahl der Flüchtlinge nutzten die Rechtsextremisten des Front National für ihre Hetze – und wurden bei den Regionalwahlen 2015 in der ersten Runde die stärkste Kraft. Der Druck von rechts macht eine gemeinsame EU-Asylpolitik von Präsident Hollande an der Seite von Merkel brisant. Dabei hatte der Nachbar 2015 deutlich weniger Asylanträge als etwa Deutschland oder Schweden – pro Monat etwa 6000. Dennoch ist man in Paris verärgert: Deutschland habe ohne Rücksprache die Grenze geöffnet. Wer jetzt die Kosten dafür europäisch verteilen wolle, der nehme in Kauf, dass 2017 der Front National die Wahl gewinne. Ziehen Frankreich und Deutschland nicht an einem Strang, wird eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise schwer.

Polen

Alle elf EU-Länder in Osteuropa nehmen zusammen weniger Asylbewerber auf als Deutschland. Vor allem das 40 Millionen Einwohner starke Polen müsste viel mehr tun. Doch Polens neue nationalkonservative Regierung geht auf Konfrontation mit der EU und kündigte an, dieses Jahr 400 Flüchtlinge ins Land zu lassen. In keinem EU-Land ist der Ausländeranteil geringer. Die Stimmung zwischen EU und Polen ist phasenweise eisig. Insbesondere Kritik von deutschen Politikern löste in Polen Empörung aus. Nun versuchte Außenminister Steinmeier bei seinem Besuch in Warschau die Wogen zu glätten.