Berlin. Die Islamistenszene in Deutschland wächst rasant und wandelt sich. In einigen Städten radikalisieren sich besonders viele Menschen.

Es passiert nicht oft, dass ein Pizza-Bote europaweit Schlagzeilen macht. Bei Philip B. war es so. Der junge Mann aus dem niederrheinischen Dinslaken hat sich Abu Osama genannt. „Ich bin nach Syrien ausgewandert und habe mich der Karawane des Dschihad angeschlossen“, schwärmte er in einem Video von Islamisten im Internet.

Das war 2013. Heute ist der 26-jährige Pizza-Bote aus dem Stadtteil Lohberg tot. Er hat sich im Irak im „Heiligen Krieg“ in die Luft gesprengt. 20 kurdische Peschmerga-Kämpfer starben. Philip B. war nicht alleine, eine Handvoll junger Männer zogen gemeinsam aus der Gemütlichkeit der deutschen Provinz los und wurden Schwerkriminelle. Sie exportierten den Dschihad aus Deutschland – und damit auch den Tod. Das ist ein Risiko, dass von einer Szene ausgeht, die so schnell wächst, dass Polizei und Geheimdienst mit der Beobachtung schwer schritthalten können. Das zweite Risiko: ein Anschlag von Dschihadisten wie in Paris auch in einer deutschen Stadt.

Unterstützerszene des IS wird auf 50 Personen geschätzt

Dinslaken ist einer der „Hotspots“ der Bewegungen in Deutschland. Es gibt andere: Solingen, Aachen nahe der belgischen Grenze – und Bonn. Die Brüder Yassin und Mounir Chouka haben lange von Wasiristan aus den Kampf propagiert – „bönnsche Jungs“, die einst bei SC Fortuna Fußball spielten und als lebensfroh galten. Einer von ihnen ist heute tot, der andere verschwunden. Der Verfassungsschutz an Rhein und Ruhr glaubt, dass der Islamismus derzeit wieder in Bewegung ist. Die Szene organisiert sich aufgrund des Drucks durch die Sicherheitsbehörden um. Er verlässt eher die Schwerpunkte wie in Bonn oder Dinslaken und verteilt sich in Kleingruppen über das ganze Bundesland. Leichter macht das weder Prävention noch Fahndung.

Auch in Berlin, Hamburg und im Rhein-Main-Gebiet um Offenbach und Hanau sind starke Islamisten-Szenen gewachsen. Und auch in Wolfsburg. Die Unterstützer-Szene der Terrormiliz „Islamischer Staat“ wird auf bis zu 50 Personen geschätzt. Das niedersächsische LKA führt derzeit fast 20 Verfahren gegen Extremisten. Vor einigen Jahren bekam die Szene einen Schub durch den tunesischen IS-Anwerber Yassin O. Der aus Syrien angereiste Mann radikalisierte andere. Sie trafen sich im Islamischen Kulturzentrum, später in einer Moschee, regelmäßig auch in einem tunesischen Café. Viele von ihnen – auch Anwerber O. – reisten Ende 2013 bis Mitte 2014 nach Syrien aus, um sich dem IS anzuschließen. Mindestens sieben sind tot, vier sollen bei Selbstmordanschlagen im Irak und Syrien getötet worden sein.

Zwei Wolfsburger IS-Kämpfer, die sich gemeinsam nach Syrien abgesetzt hatten, kehrten im Sommer 2014 nach Deutschland zurück – und wurden verhaftet. Als Terrorverdächtige wurden sie vor dem Oberlandesgericht Celle angeklagt. Es ist der erste IS-Prozess in Niedersachsen. Das Urteil fällt am 7. Dezember.

Bis heute sind die Wolfsburger Islamisten gut mit Gruppen in Braunschweig vernetzt. Dort sitzt der salafistische Prediger Muhamed Ciftci, der selbst Gewalt ablehnt, aber dennoch vom Geheimdienst beobachtet wird.

Manchen reicht das Schwärmen vom Gottesstaat nicht mehr

Hochburgen des deutschen Dschihads bilden sich oft dort, wo einzelne Führungsfiguren wie islamistische Prediger oder etablierte „Heilige Krieger“ einen unbeobachteten Raum vorfinden – und eine Jugend, die auf der Suche nach Beschäftigung, Abenteuer oder Gewalt ist. Der Geheimdienst schreibt in seinem jüngsten Bericht über die deutschen Dschihadisten: „Bei diesem Personenspektrum sind zunehmend Anzeichen für Verrohung, Brutalisierung und Gewöhnung an Gewalt zu beobachten.“ Mehrere Dschihadisten aus Deutschland haben im Irak und in Syrien Anschläge verübt, mutmaßlich im Auftrag des IS. Menschen wie der Dinslakener Philip B. sind für die Behörden sogenannte „Gefährder“. 426 von ihnen kennt das Bundeskriminalamt. Auf 1000 Personen schätzt der Verfassungsschutz das Reservoir von Menschen mit Terrorismuspotenzial. Tendenz steigend.

Früher bekämpften die Behörden vor allem zwei Typen von „Heiligen Kriegern“: die organisierte Terrorzelle, entsandt von Netzwerken aus fernen Staaten wie al-Qaida. In Hamburg sammelte sich 2001 eine kleine Gruppe in der mittlerweile geschlossenen al-Quds-Moschee und plante die Attentate auf New York. Der zweite Typ ist der unabhängig agierende Islamist. Arid Uka ermordete 2011 als sogenannter „einsamer Wolf“ zwei US-Soldaten in Frankfurt. In kurzer Zeit hatte Uka sich durch Hetze im Internet radikalisiert. Mittlerweile schlägt vor allem die Stunde der Salafisten. Manche verteilen Korane in Fußgängerzonen und werben für ihren Hardcore-Islam. Sie schwärmen vom Paradies, träumen von einem Scharia-Staat. Fast 8000 Salafisten zählen die Behörden. Die meisten in Nordrhein-Westfalen (2.250), gefolgt von Hessen (1.650) und Berlin (670).

„Rückkehrer“ gelten als besonders gefährlich

Doch manchen reicht das Schwärmen vom Gottesstaat nicht mehr. 760 Ausreisen in Richtung Syrien und Irak zählten die Behörden bisher. Etwa ein Drittel der Unterstützer des IS und anderer Extremisten ist zurückgekehrt nach Deutschland. Diese „Rückkehrer“ gelten für Polizei und Verfassungsschutz als besonders gefährlich, da sie der IS im Kriegsgebiet an Waffen ausgebildet haben könnte. Und sie könnten einen Auftrag für einen Terroranschlag in Deutschland haben.

Die Salafistenszene trifft sich in privaten Räumen, in Kellermoscheen großer Wohnsiedlungen, in „Kulturvereinen“, aber auch in einzelnen öffentlichen Moscheen, etwa der Taqwa-Moschee in Hamburg-Harburg. Der Verfassungsschutz beobachtet die jungen Leute, die sich dort um einen radikalen Imam sammeln. Auch der bekannte Salafisten-Prediger Pierre Vogel versuchte im Umfeld der Taqwa-Moschee Fuß zu fassen.

Klar ist für die Behörden: Dschihadistische „Hotspots“ sind fast identisch mit salafistischen. Die Generalbundesanwälte in Karlsruhe führen derzeit etwa 140 Verfahren gegen mutmaßliche Anhänger und Helfer islamistischer Terrorgruppen. Zum Beispiel gegen Ali R. – ein Dschihadist aus dem Raum Berlin. Als er über den Flughafen in München aus dem Kriegsgebiet wieder nach Deutschland einreisen wollte, nahm in das BKA fest. Nach jetzigem Stand der Ermittlungen soll er dem IS zunächst bis Mai 2015 bei der Aufnahme und Betreuung von neu angekommenen ausländischen Kämpfern geholfen haben. Anschließend soll er für die Terrormiliz Hüllen für Sprengfallen hergestellt haben.

Einzelne Vereine sind bereits verboten

Die Militanz der Szene fand ihren Ausdruck in der Gruppe „Millatu Ibrahim“ (MI). Die Anführer der im Herbst 2011 in Berlin gegründeten „Gemeinschaft Abrahams“ waren der einschlägig vorbestrafte Kreuzberger Ex-Rapper Denis Cuspert und der wegen des Verbreitens von Terrorpropaganda ebenfalls vorbestrafte Österreicher Mohamed Mahmoud. Sie schworen ihre Anhänger darauf ein, den „Ungläubigen“ mit „Feindschaft und Hass für immer“ zu begegnen. „Bei Allah, wir werden Rom erobern“, verkündete Mohamed Mahmoud auf der Internetplattform Youtube. Das klang oft eher lächerlich als bedrohlich. Doch die Saat des Hasses ging auf – und die aktionsorientierten Anhänger der Salafisten-Szene fanden mit MI die Struktur, die es ihnen wenig später ermöglichen sollte, ihre gewalttätigen Fantasien etwa in Syrien in die Tat umzusetzen.

Im Juni 2012 ließ Innenminister Thomas de Maizière die Gruppe verbieten – nachdem ihre Anhänger in Solingen und Bonn Straßenschlachten angezettelt hatten. Die wichtigsten Köpfe von MI reisten nach Ägypten aus. In Syrien tobte unterdessen der Bürgerkrieg – und als dschihadistische Gruppen verstärkt um Auslandskämpfer warben, traten Denis Cuspert und sein Gefolge die Reise in den „Heiligen Krieg“ an. Cuspert, schon mehrfach für tot erklärt, ist heute eine Ikone der deutschen Dschihadisten. In seinen Videos rief er „Kämpfer“ der Szene zu Anschlägen in Deutschland auf.

2012, noch vor dem Verbot, kamen die Werber von „Millatu Ibrahim“ aus Bonn auch ins niederrheinische Lohberg. 6000 Einwohner groß, 30 Prozent Arbeitslosigkeit, keine Lehrstellen. Sie kamen zu Jugendlichen wie Philip B. und funktionierten ein städtisches Heim zum Rekrutierungsbüro um. Und sie hatten Erfolg. Auch bei Nils D. Der Konvertit soll in Syrien in einer Spezialeinheit des IS Deserteure festgenommen haben. Nun steht er vor Gericht.