Berlin. Die EU braucht die Türkei, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Kommissionschef Juncker erklärt dafür sogar ein Streitthema zum Tabu.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat zur Eindämmung des Flüchtlingsandrangs eine zügige Umsetzung des Aktionsplans mit der Türkei angemahnt. Die Türkei brauche drei Milliarden Euro und sei im Gegenzug bereit, die Flüchtlinge im Land zu halten, sagte Juncker am Dienstag vor dem Europaparlament in Straßburg. Jetzt seien dringend konkrete Absprachen nötig, und es sei nicht die Zeit, die türkische Regierung auf Verstöße gegen die Menschenrechte hinzuweisen – „ob uns das gefällt, oder nicht“, so Juncker. Er warnte nun vor einer „humanitären Katastrophe“ zum Winteranfang.

EU steckt in der Zwickmühle

Die Äußerungen Junckers werfen ein weiteres Mal ein Schlaglicht auf die Zwickmühle, in der die EU-Staaten im Umgang mit der Türkei stecken. Zum einen drängt die Union seit Jahren auf die Einhaltung der Menschenrechte und der Pressefreiheit am Bosporus. Auf der anderen Seite aber steigt täglich der Druck auf die EU, den anhaltenden Andrang der Flüchtlinge zu bremsen. Dabei spielt die Türkei als Nachbarland der Kriegsländer Syrien und Irak eine Schlüsselrolle. Juncker, so scheint es nun, hat sich bei diesem politisch-diplomatischen Spagat für eine Seite entschieden. Neue Kritik scheint damit vorgezeichnet.

Erst vor rund einer Woche war Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Türkei gereist, um mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und Regierungschef Ahmet Davutoğlu über einen gemeinsamen Plan in der Flüchtlingskrise zu beraten. Merkel musste dafür auch Kritik einstecken. Die Kritiker warfen der Kanzlerin vor, Erdoğan und die islamisch-konservative Regierungspartei AKP mit dem Besuch zwei Wochen vor der Parlamentswahl an diesem Sonntag aufzuwerten.

„Nicht zu viele Zugeständnisse machen“

So mahnte Grünen-Chef Cem Özdemir, Erdoğan müsse klargemacht werden, „die Türkei braucht Demokratie, sie braucht Meinungsfreiheit, sie muss ihre religiöse Vielfalt, übrigens auch für die Christen in der Türkei, endlich akzeptieren und gewährleisten“. Und CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sagte unserer Redaktion: „Wir dürfen der Türkei nicht zu viele Zugeständnisse machen: ein EU-Beitritt steht nicht auf der Tagesordnung. Es gibt erhebliche Defizite beim Umgang mit den wesentlichen Grundrechten, insbesondere bei Meinungs- und Pressefreiheit.“

Die Türkei hat nach Angaben aus Ankara bisher 2,5 Millionen Flüchtlinge alleine aus Syrien und dem Irak aufgenommen. Die Regierung hat drei Milliarden Euro für die Versorgung dieser Menschen gefordert – das sind dreimal so viel wie die EU bisher bereit war zu zahlen. Für Hilfe in der Flüchtlingskrise hatte Merkel der Türkei bei ihrem Besuch finanzielle Hilfen und eine erleichterte Einreise ihrer Bürger in die EU in Aussicht gestellt. Die Türkei habe bisher wenig Unterstützung erhalten für ihre große Leistung. „Deshalb werden wir uns finanziell stärker engagieren.“

Verzögert Brüssel türkeikritischen Bericht?

Gerade erst hat die „Welt am Sonntag“ berichtet, die EU-Kommission verzögere die Veröffentlichung einer kritischen Studie zur Lage der Menschenrechte in der Türkei. Ankara bemüht sich seit Jahren um einen Beitritt zur EU. Der Bericht, der der Zeitung vorliege, bescheinige dem Land „nicht nur Defizite, sondern Rückschritte bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit“.