Aus Sorge vor Übergriffen können viele Wähler in der Ostukraine nicht abstimmen. Schwer bewaffnete Separatisten tun in den Regionen Donezk und Lugansk alles, um die Wahl zu verhindern. Doch nicht überall gelingt ihnen das.

Donezk/Moskau. Die Gewalt in der Ostukraine mit immer mehr Toten und Verletzten lässt viele Wähler in den Regionen Donezk und Lugansk um ihr Leben fürchten. Sie bleiben am Tag der Entscheidung über den neuen Präsidenten ihres Landes zu Hause. Zwar öffnen einige wenige Wahllokale. Tausende bleiben in den von militanten prorussischen Kräften kontrollierten Regionen aber dicht. „Wir können nicht das Leben und die Gesundheit unserer Bürger riskieren, wenn bis an die Zähne bewaffnete Terroristen die Wahlen sprengen“, betont der von der Zentralregierung in Kiew eingesetzte Donezker Gouverneur Sergej Taruta.

Es sind aber nicht nur die Separatisten, die Gewalt ausüben. Auch proukrainische Kräfte kämpfen unter bürgerkriegsähnlichen Zuständen gegen die „Terroristen“, wie die Regierung in Kiew die Aufständischen nennt. Die jüngsten Todesmeldungen über einen italienischen Fotoreporter und seinen russischen Übersetzer in der umkämpften Stadt Slawjansk im Gebiet Donezk verstärken die Ängste der Wähler nur.

Menschenrechtler der Organisation Human Rights Watch (HRW) listen am Sonntag auf, wie Mitarbeiter von Wahlkommissionen im Raum Lugansk sich unter Druck gesetzt fühlen. Die Separatisten tun demnach alles - bis hin zu Folterdrohungen, um den Urnengang zu verhindern. Die Polizei unternehme dagegen nichts, um Wähler beim Zugang zu den Lokalen zu schützen, kritisiert HRW. Gegner der Regierung in Kiew mobilisieren im Zentrum von Donezk am Lenin-Denkmal eine Protestkundgebung mit Tausenden Bürgern. Eine Rentnerin ruft: „Russland, Russland! Wir werden uns nicht ergeben“ - wie auf einem Video des Internetportals donbass.ua zu sehen ist. Am Lenin-Denkmal kleben Fotos der „Helden“, die im Kampf für die Unabhängigkeit gestorben sind. Die von den USA gesteuerten Machthaber in Kiew hätten nichts zu suchen auf dem Gebiet der unabhängigen Volksrepublik Donezk, ruft die Frau.

Es ist genau zwei Wochen her, dass sich die Region mit einem umstrittenen Referendum von Kiew abspaltete. Nun verkünden die prorussischen Kräfte, sie hätten sich mit der ebenfalls so gebildeten Volksrepublik Lugansk zusammengeschlossen – zum Staat Neurussland.

Das Chaos am Wahltag ist groß. Der von den selbst ernannten prorussischen Machthabern nicht anerkannte Gouverneur Taruta behauptet, dass doch in 9 von 22 Wahlkreisen des Donezker Gebietes gewählt werde. Die Abstimmung sei damit gültig, obwohl viele ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen könnten. Dagegen meinen die zunehmend auch mit inneren Machtkämpfen beschäftigten Separatisten, dass der Urnengang plangemäß torpediert worden sei. Die auch von russischen Staatsmedien unterstützten neuen Machthaber sprechen von einem „historischen Tag“: „Die Idee Neurussland lässt uns aufleben“, sagt der selbst ernannte Volksgouverneur Pawel Gubarew im Moskauer Staatsfernsehen. „Wir erkennen den Präsidenten und das Parlament der Ukraine nicht an“, verkündet er.

Unbeirrt versuchen die neuen Kräfte, ihre noch schwachen politischen Strukturen zu festigen. Auch am Wahltag erhöhen sie weiter den Druck auf den Oligarchen Rinat Achmetow, sich doch auf ihre Seite zu schlagen. Der Milliardär mobilisiert derzeit Zehntausende Beschäftigte in seinen Kohlebergwerken, um Front zu machen gegen die regierungsfeindlichen „Terroristen“ und Marodeure. Medien berichten am Sonntag von einem großen Protestzug wütender Bürger zur Residenz des Unternehmers. „Das Volk ist erzürnt über das Verhalten Achmetows“, sagt der selbst ernannte örtliche Regierungschef Alexander Borodaj, der aus Moskau stammt. Borodaj droht dem Oligarchen erneut damit, dessen Besitz zu verstaatlichen.

Wo das alles hinführen soll, bleibt unklar. Bei einem Treffen mit Kremlchef Wladimir Putin am Rande des Wirtschaftsforums in St. Petersburg klingt durch, dass Russland das Recht auf Selbstbestimmung in der Region unterstützt. In Kremlkreisen ist auch zu hören, dass dort prorussische Idealisten am Werk seien. Viele Freiwillige kämen über die kaum bewachte Grenze, um für „Neurussland“ zu kämpfen, heißt es. Experten in Moskau vermuten, dass sich die Region zu einem dauerhaften Konfliktherd entwickelt – und ihr Fortbestand als Teil der Ukraine von Tag zu Tag immer unwahrscheinlicher werde.