Mit Panzern wurden Stimmzettel in die Ostukraine gebracht. Doch viele Wahllokale blieben Sonntag zu. Am Sonnabend wurden bei Gefechten ein italienischer Journalist und sein Dolmetscher getötet.

Kiew. Drei Monate nach dem Sturz des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch wählt die Ukraine am (heutigen) Sonntag einen neuen Staatschef. Der Urnengang wird als wichtig angesehen, um das von Unruhen erschütterte Land zu stabilisieren. Die Abstimmung findet trotz blutiger Kämpfe in der Ostukraine statt, wo prorussische Aufständische Regierungsgebäude eingenommen haben und sich Auseinandersetzungen mit ukrainischen Regierungstruppen liefern. Die Rebellen haben angekündigt, die Stimmabgabe zu blockieren.

Nach aktuellen Berichten haben die Kämpfe erneut ein Todesopfer gefordert. So sollen ein italienischer Journalist und sein Dolmetscher getötet worden sein. Wie das Außenministerium in Rom am Sonntag mitteilte, wurde Andrea Ronchelli am Sonnabend nahe der Rebellenhochburg Slawjansk durch Mörserbeschuss getötet. Die Identifizierung der Leiche stehe zwar noch aus, aber man sei sich sicher, dass Ronchelli tot sei, hieß es.

Für die wohl wichtigste Volksabstimmung der ukrainischen Landesgeschichte waren 100.000 Polizisten und Freiwillige mobilisiert worden, außerdem kontrollierten 1200 internationale Wahlbeobachter den Urnengang. Mehr als 36 Millionen Wahlberechtigte waren dazu aufgerufen, den Nachfolger des gestürzten prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu bestimmen. Die Wahllokale schließen um 19.00 Uhr (MESZ), erste Ergebnisse werden ab 23.00 Uhr erwartet.

In der Hauptstadt Kiew, in Lemberg (Lwiw) im Westen sowie in Charkiw im Osten und in Odessa im Süden des Landes drängten sich schon kurz nach Öffnung zahlreiche Menschen in den Wahllokalen. In Kiew wurde zudem auch ein neuer Bürgermeister gewählt. Zur Wahl steht dafür unter anderem Vitali Klitschko.

Schokoladenfabrikant ist Favorit

Favorit bei der Präsidentschaftswahl ist der Schokoladenfabrikant und Milliardär Pjotr Poroschenko, der die Anti-Regierungs-Proteste gegen Janukowitsch im Winter aktiv unterstützt hatte. Umfragen deuten darauf hin, dass er die notwendige absolute Mehrheit für einen Sieg in der ersten Runde jedoch verfehlen wird. Daher gilt eine Stichwahl am 15. Juni als wahrscheinlich. Poroschenkos schärfste Rivalin ist die umstrittene frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko.

Sie habe für Poroschenko gestimmt, weil sie hoffe, dass er die Ukraine aus der Einflusssphäre Russlands holen und näher an den Westen heranführen werde, sagte die 65-jährige Vera Potemkina in Kiew. „Wir sind Teil von Europa, wir brauchen Asien nicht.“

Der 83-jährige Mychailo Mazko unterstützte ebenfalls Poroschenko. „Obwohl er ein Oligarch ist, habe ich dennoch für ihn gestimmt, weil das Land in so einer schwierigen Zeit vereint werden muss und eine starke Führung braucht“, erklärte er.

Wahl in Ostukraine in weiten Teilen nicht möglich

Im Osten der Ukraine gibt es indes in weiten Teilen des krisengeschüttelten Ostens kaum Möglichkeiten zur Stimmabgabe. In der Millionenstadt Donezk habe bisher kein Wahllokal geöffnet, teilte die von Kiew eingesetzte Gebietsverwaltung am Sonntag mit. Um 9.30 Uhr Ortszeit (8.30 Uhr MESZ) sei im gesamten Gebiet Donezk die Stimmabgabe in 426 von insgesamt 2430 Wahlbüros möglich gewesen. Es lägen allerdings noch nicht Informationen aus allen Teilen der Region vor.

Örtliche Medien berichteten von vereinzelten Angriffen auf Wahllokale, etwa in der Stadt Dokutschajewsk. Im benachbarten Gebiet Lugansk könne vermutlich nur in zwei von zwölf Bezirken gewählt werden, betonte eine Nichtregierungsorganisation. In zwei Städten wurden zudem die Bürgermeisterwahlen abgesagt. In der Region halten prorussische Separatisten zahlreiche Verwaltungsgebäude besetzt. Es kommt immer wieder zu Gefechten mit Regierungstruppen.

Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko gab ihre Stimme in ihrer Heimatstadt Dnjepropetrowsk ab. „Ich habe für die Freiheit und die Demokratie in der Ukraine gestimmt“, sagte die frühere Regierungschefin. Die Politikerin, die von ihrem Mann und ihrer Tochter begleitet wurde, liegt in Umfragen mit deutlichem Rückstand auf Platz zwei hinter dem Schokoladenfabrikanten Pjotr Poroschenko.

Polizei hat nur neun Wahlbezirke unter Kontrolle

Der stellvertretende ukrainische Innenminister Sergej Jarowji sagte am Sonnabend, die Polizei könne nur in neun von 34 Wahlbezirken im Osten des Landes für Ordnung und Sicherheit bei der Stimmabgabe sorgen.

Die Übergangsregierung in Kiew und der Westen werfen Russland vor, den Aufstand im Osten der Ukraine zu unterstützten, was der Kreml bestreitet. Nachdem Moskau im März die Halbinsel Krim annektiert hatte, wurden westliche Sanktionen gegen das Land verhängt. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte am Freitag, dass Moskau das Ergebnis der Wahl im Nachbarland anerkennen werde.

Blutige Kämpfe forderten mehr als 150 Todesopfer

Die von blutigen Kämpfen zwischen Regierungssoldaten und Separatisten geprägten Wochen vor der Wahl mit mehr als 150 Toten seit Mitte April haben die Ukraine an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht. Die Behörden sahen sich sogar genötigt, Stimmzettel im Schutze der Nacht mit Panzern und Hubschraubern in die Wahlbüros im Osten der Ukraine zu bringen.

Der ukrainische Übergangsregierungschef Arseni Jazenjuk rief seine Landsleute trotz der anhaltenden Kämpfe im Osten des Landes zur Stimmabgabe auf. Seine von westlichen Regierungen unterstützte Interimsführung in Kiew betrachtet die Wahl als wichtige Etappe, um den blutigen Konflikt mit den Separatisten im Osten friedlich zu lösen. Für den neuen Präsidenten des wirtschaftlich schwer angeschlagenen Landes wird es außerdem darum gehen, zugleich westliche Finanzierungsquellen zu erschließen und die Beziehungen mit Russland zu normalisieren.

Russlands Präsident Wladimir Putin bekräftigte am Sonnabend in einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem französischen Staatschef François Hollande, er werde das Abstimmungsergebnis „respektieren und mit den künftigen Autoritäten zusammenarbeiten“, wie der Elysée-Palast mitteilte. Für politischen Zündstoff dürfte indes sorgen, dass Putins Regierungschef Dmitri Medwedew am Sonntag die Krim besuchen wollte.