In Hessen läuft das älteste Atomkraftwerk. “Jobmotor“ sagen Befürworter, “Pannenmeiler“ die Kritiker. Eine Kleinstadt bleibt gespalten.

Biblis. Die Kassiererin in der Drogerie hat die Ruhe weg. „Ach, Rauchen ist sicher gefährlicher“, sagt sie auf die Frage, ob ihr das Atomkraftwerk in der Nachbarschaft nicht zu denken gebe. Hier, im südhessischen Biblis, etwa drei Kilometer entfernt von der Drogerie, arbeitet Deutschlands ältester Reaktor, Biblis A – seit 1974 am Netz. Direkt nebenan läuft seit 1976 Biblis B. Wenn es nach den Atomkraftgegnern geht, gehören sie längst abgeschaltet - Betreiber RWE hofft aber mit einem Beschluss der schwarz-gelben Koalition für längere Laufzeiten auf eine Zukunft für Biblis.

„Wenn das Ding hochgeht, ist es doch egal, ob ich hier wohne oder 100 Kilometer weiter“, sagt die Drogeriekassiererin. Das scheint eine Logik, der auch ein Kunde in der Warteschlange etwas abgewinnen kann: „Warum sollte man sich da denn einen Kopf machen?“, will er wissen.

Ein Grund wäre vielleicht das Alter der Meiler. Als sie ans Netz gingen, kam der VW Golf I auf den Markt und der Heim-PC war den Menschen noch fremd. 35 Jahre ist das her. „Na klar ist Biblis das älteste, aber auch das modernste Kernkraftwerk“, sagte der Mann in der Schlange. Er trägt Anzug und Krawatte. Es sei doch längst alles auf den neusten Stand gebracht, meint er voller Überzeugung. Seinen Namen will er aber doch lieber nicht veröffentlicht wissen. Genauso die Kassiererin: „Lassen Sie mal, das gibt nur böses Blut.“

Tanja Köller und Nina Eckstein sind da offener, sie geben nicht nur bereitwillig ihre Meinung, sondern auch ihre Namen preis. Die zwei Mütter schieben beide eine kleine Tochter in der Karre vor sich her. „Nein“, sagt Eckstein, „ich habe da keine Bedenken. Ob es nun weiter läuft oder abgeschaltet wird, ist für mich nicht so wichtig.“

Köller sieht das anders: „Mir ist da schon immer komisch bei. Die Leute direkt nebenan riskieren doch die größte Gefahr.“ Sie denke etwa an Leukämie. Ihre Sorge ist berechtigt: Die Wahrscheinlichkeit, an Blutkrebs zu erkranken, ist laut einer Studie des Bundesamtes für Strahlenschutz im Fünf-Kilometer-Umkreis eines Reaktors mehr als doppelt so hoch wie normal. Nur warum – das weiß die Forschung nicht.

Der gefährliche Fünf-Kilometer-Umkreis deckt ganz Biblis und die westlich angrenzenden Gemeindeteile Wattenheim und Nordheim ab. Andererseits kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie von Mainzer Forschern zu dem Ergebnis, dass es keinen Zusammenhang zwischen Atommeilern und Fehlbildungen bei Neugeborenen gibt.

Im Internet hat Betreiber RWE Power eine dicke Broschüre hinterlegt, in der steht, was passiert, wenn die Dinge schieflaufen und Radioaktivität austritt. Weht Wind aus Nordwest, sieht es ganz übel aus für Biblis. In der Broschüre heißt es: „Fenster und Türen möglichst dicht schließen! Lüftungs- und Klimaanlagen (...) ausschalten! Sich möglichst in Kellerräumen oder innen liegenden Räumen aufhalten!“ Doch das schützt nur vor einer Wolke. Kommt es zum GAU wie in Tschernobyl, ist eh alles zu spät.

RWE sagt, Biblis sei sicher. Die Statistik stützt das nicht: Der Physiker Wolfgang Renneberg errechnete in der Studie „Risiken alter Kernkraftwerke“, dass neuere Anlagen pro Jahr deutlich weniger Probleme – sogenannte meldepflichtige Ereignisse – aufweisen, als Altanlagen wie Biblis. Und Renneberg ist nicht irgendwer: Er war bis Ende 2009 Chef der Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium.

Nach dem Wechsel zur Koalition aus Union und FDP musste Renneberg gehen. Sein Nachfolger ist Gerald Hennenhöfer – Ex-Atomlobbyist. Er hatte auf Seiten der Energiekonzerne mit der rot-grünen Regierung um die Konditionen des Atomausstiegs gerungen, von dem Schwarz-Gelb nun wieder abrückt. Die Meiler, auch in Biblis, sollen länger laufen - der „Ausstieg vom Atomausstieg“ ist politischer Sprengstoff.

Im kleinen Biblis scheint der Atomstreit nicht so präsent wie etwa im niedersächsischen Wendland am möglichen Atommüllendlager Gorleben. Menschen, die in Reaktornähe wohnen, müssten konsequenterweise wegziehen, wären sie echte Atomkraftgegner. Die Kleinstadt Biblis aber wächst beständig – es gab und gibt günstige Neubaugebiete.

Doch bei den beiden Müttern Tanja Köller und Nina Eckstein mit ihren gegensätzlichen Meinungen ist schon zu spüren, dass die Frage des Atomkraftwerkes das Leben in der Kleinstadt prägt. „Da hängen so viele Jobs dran“, sagt Nina Eckstein nüchtern. Bei ihr in der Familie zwar nicht, doch das Argument müsse Beachtung finden. Köller lässt das gelten, aber meint: „Keiner kann zu 100 Prozent mit der Gefahr umgehen. Wir sind hier doch auch schon an großen Pannen vorbeigeschrammt.“ Der Statistik zufolge gab es in Biblis A und B bisher 825 Vorfälle. Einer davon ist vier Jahre her und zwang das Atomkraftwerk (AKW) länger als ein Jahr zum Stillstand: Im Herbst 2006 kam eher zufällig bei Routinechecks heraus, dass in den Meilern 15.000 je etwa 30 Zentimeter lange Spezialdübel bei einer Nachrüstung für Erdbebensicherheit falsch eingebaut worden waren.

Wer mit Gedanken an die Reaktor-Störanfälligkeit durch Biblis geht und sich umschaut, liest die großen RWE-Werbeplakate anders. Auf einem steht: „Arbeitsplätze, Wirtschaftsmotor, Zukunft für das Land. Das macht Biblis.“ Gedruckt ist es auf einem überdimensionalen gelben Merkzettel, als müsse eine Gedankenstütze für die Einwohner her. An einer Bushaltestelle wirbt ein Schild für das Seefest der örtlichen DLRG, unten am Rand prangt der Schriftzug des Sponsors RWE mit dem Wortspiel VoRWEggehen. „Halb Biblis wird von RWE gesponsort“, sagt die 33-jährige Köller. Es gebe keinen Verein, der noch nichts bekommen habe. Der Energieriese teilt dazu nur mit: „RWE sieht sich als Partner der Region und fördert Vereine und Institutionen in Bereichen wie Bildung, Jugend, Sport oder Kultur.“ Eine Spende habe beispielsweise geholfen, eine Kita in Nordheim fertigzubauen. Die Summen, die RWE springen lässt, nennt der Konzern nicht. Er lässt nur erklären: „Alle Spenden- und Sponsoringmaßnahmen unterliegen den strengen Regeln des (...) Verhaltenskodex des RWE-Konzerns.“

Die beiden Mütter Köller und Eckstein schieben ihre Karren weiter, vorbei an einem RWE-Plakat, das für den Besuch des AKW-Infozentrums wirbt. Köller sagt noch: „Bei all den Diskussionen fragen wir uns natürlich auch: Wie groß ist wohl unser Einfluss?“

Wenn es nach RWE ginge, soll Biblis noch lange nicht vom Netz. Die Argumente des Unternehmens: Gut 1000 Mitarbeiter am Standort, davon 300 aus externen Firmen. Wenn die Meiler gewartet werden, kämen 1000 Fremdfirmenmitarbeiter hinzu. In der Region profitierten bis zu 500 Betriebe vom Kernkraftwerk, die Wertschöpfung betrage pro Jahr 75 Millionen Euro. Die Reaktoren sparten im Vergleich zu einem modernen Kohlekraftwerk jedes Jahr 15 Millionen Tonnen des umweltschädlichen Kohlendioxids CO2 – das entspreche dem Ausstoß von 4,4 Millionen Mittelklassewagen. Und noch einen wichtigen Grund gibt es für ein langes Leben der alten Meiler: RWE macht mit ihnen neues Geld.

Im Gemeindeteil Nordheim sitzt Josef Fiedler in seinem Garten. Er ist Ortsvorsteher für die SPD, die eigentlich gegen Atomkraft ist. Aber Fiedler stellt klar: „Leute, die dem AKW den Stecker ziehen würden, wenn sie nur könnten, sind hier eindeutig in der Minderheit.“ Und er fügt noch an: „Das war schon immer so.“ Fiedler hat dafür auch eine einleuchtende Erklärung: „Für die Menschen hier ist es einfacher mit dem Gedanken zu leben, man lehne das AKW nur teilweise ab.“

Und ein bisschen so ist es bei Fiedler auch. „Ich würde die Meiler nicht gegen ein Kohlekraftwerk austauschen wollen.“ Der 60-Jährige ist von der AKW-Sicherheit überzeugt, auch wenn er in der Energieform keine Zukunft sieht. Ein GAU wie Tschernobyl ist für ihn undenkbar.

Dennoch gesteht Fiedler ein: „Je älter, desto anfälliger. Die Tatsache ist nicht von der Hand zu weisen.“ Angst habe er aber nicht. „Dann wäre ich schon längst weggezogen. Aber dann gäbe es auch wenige Ecken in Deutschland, wo ich keine Angst haben müsste“, sagt er. Das stimmt: Deutschland zählt 17 Reaktoren an zwölf Standorten. Nach dem jetzigen Stand müssten Biblis A und B 2011 vom Netz gehen. „Ich gehe aber von einer moderaten Laufzeitverlängerung aus. Vier bis fünf Jahre vielleicht“, sagt Fiedler. Prognosen seien heikel, da das Ausstiegsgesetz gekippt werden müsste. Schwarz-Gelb spielt mit dem Gedanken, das ohne Länderbeteiligung zu machen, da ihnen die Bundesratsmehrheit bald fehlt. SPD und Grüne haben schon angekündigt, dass sie dann vor das Bundesverfassungsgericht ziehen würden.

Fiedler betont auch, dass die Diskussion nur um Sicherheit und Laufzeiten zu kurz greife. Die Monopolstruktur der Energieriesen RWE, Vattenfall, Eon und EnBW müsse gestoppt werden, um wahren Wettbewerb zuzulassen. Dabei helfe eine Laufzeitverlängerung nicht. „FDP und CDU stützen mit ihrer Politik sozialistische Staatsmonopolstrukturen“, sagt Fiedler. Neben der Wettbewerbsstruktur spiele der Atommüll eine entscheidende Rolle. Noch immer gilt kein Endlager als sicher – das anvisierte Gorleben in Niedersachsen ist nicht fertig untersucht.

Dessen ungeachtet sorgen die AKW-Betreiber weiter für hochgiftigen Müll und parken die alten Brennstäbe provisorisch in Zwischenlagern. Wie Kritiker sagen, geschieht das auch, um die Castor-Transporte zu vermeiden – bei denen wird nämlich oft demonstriert und das findet in den Medien meist viel Beachtung. Daher lagert das Gift dezentral und die Verursacher müssen sich um den Verbleib nicht kümmern. „Dabei ist eigentlich jeder für den Müll verantwortlich, der bei ihm anfällt. Er muss ihn selbst entsorgen oder dafür zahlen. Nur bei Atomkraftwerken ist das anders. Da bleibt es am Staat hängen“, sagt Fiedler. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Dabei ist das Sicherheitsdefizit zumindest bei Biblis A amtlich: RWE hatte 2006 beantragt, zugesagte Strommengen vom AKW Emsland auf Biblis A zu übertragen – ohne Erfolg. Begründung: Das Risiko beim AKW Emsland sei erwiesenermaßen geringer. Doch damit nicht genug: Die Atomaufsicht im Bundesumweltministerium schrieb dem Betreiber RWE auch: „Darüber hinaus überwiegen auch die sicherheitstechnischen Nachteile jeder einzelnen Sicherheitsebene vom Kernkraftwerk Biblis A für sich Ihr (gemeint ist RWE) Interesse an einem Weiterbetrieb deutlich.“ So heißen: Alles zu alt, überall.

Daran habe sich bis heute nichts geändert, sagt der Atomexperte von Greenpeace, Heinz Smital. Auch die angeblichen Modernisierungen hält er nur für die halbe Wahrheit. „Durch Nachrüstungen wurde der Sicherheitszustand oft gar nicht verbessert“, sagt er. Oft hätten die Nachbesserungen überhaupt erst den Standard erfüllt, der laut Genehmigung schon längst hätte vorliegen müssen. Doch jede Reparatur berge neue Risiken, meint Smital. So hätten im Herzen des Pannen-AKW Krümmel Metallspäne Brennelemente beschädigt, weil mit Schweiß- und Schleifarbeiten Risse in Leitungen und Armaturen geflickt wurden.

In Biblis wurden erst diesen Juli erneut Probleme bekannt: ein Leck an einer Armatur in Block B und eine Störung nahe einer Pumpe in Block A. RWE kämpft weiter für die betagten Meiler. Für etwa 18 Jahre ist im Zwischenlager des AKW noch Platz für Atommüll. Atom-Experte Smital von Greenpeace sagt, es dauere eine Million Jahre, bis der strahlende Müll wieder ungefährlich sei. Der Weltvorrat an Uran – der Treibstoff der Atomkraft – gehe aber wohl noch dieses Jahrhundert zur Neige. Kernenergie liefere also begrenzte Energie und unbegrenzte Probleme. RWE sagt: „Wir halten die Kernenergie für eine wichtige Option der Zukunft.“ In Biblis sehen das viele ganz genauso.