Der frühere KZ-Wachmann und als NS-Verbrecher verurteilte John Demjanjuk ist am Sonnabend in einem Heim am Alpenrand verstorben.

Rosenheim. Als John Demjanjuk im vergangenen Mai zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, flossen im Gerichtssaal die Tränen. Die Nebenkläger zeigten sich erleichtert über die Entscheidung des Münchner Landgerichts, das es als erwiesen ansah, dass der gebürtige Ukrainer Demjanjuk im Vernichtungslager Sobibór Beihilfe zur Ermordung von 28.060 Menschen geleistet hatte. Seine Strafe musste Demjanjuk aber nicht verbüßen. Am Tag nach der Urteilsverkündung wurde er aus dem Gefängnis entlassen. Am Samstag starb er im Alter von 91 Jahren in einem Pflegeheim im oberbayerischen Bad Feilnbach.

Bis zuletzt hat Demjanjuk über seine Rolle in Sobibór geschwiegen. Selbst am Tag der Urteilsverkündung präsentierte er sich wie an den 92 Verhandlungstagen zuvor: ohne sichtbare Regung, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Auf ein Schlusswort verzichtete er und blieb damit konsequent bei seiner Strategie des Schweigens. Lediglich über seinen Verteidiger Ulrich Busch ließ er während des Prozesses seine Unschuld beteuern.

Die Richter sahen Demjanjuks Schuld dagegen als erwiesen an. Am 12. Mai vergangenen Jahres sprachen sie ihn der Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen im Jahr 1943 schuldig.

Demjanjuk war ein sogenannter Trawniki – einer von mehreren Tausend sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Nazis ab 1942 als Handlanger beim Massenmord an den Juden in Polen heranzogen.

Wichtigstes Beweisstück der Anklage war neben Zeugenaussagen und Verlegungslisten ein Dienstausweis, auf dem unter Foto, Namen und Geburtsdaten stand: „Abkommandiert am 27.3.43 zu Sobibór“. Bis September war Demjanjuk in Sobibór eingesetzt. In dieser Zeit wurden dort mindestens 27.900 Menschen – meist Juden aus Holland - umgebracht. Für den sogenannten Vernichtungsprozess nach dem Eintreffen neuer Transporte wurden alle Trawniki gebraucht, also auch Demjanjuk.

Dieser beteuerte hingegen, er sei unschuldig, ein Sündenbock der Nazis. Eine Lesart, die sein Sohn nach Demjanjuks Tod am Samstag noch einmal untermauerte. „Er liebte das Leben, die Familie und die Menschheit. Die Geschichte wird zeigen, dass Deutschland ihn als Sündenbock benutzte, um hilflose ukrainische Kriegsgefangene für die Taten von Nazi-Deutschen verantwortlich zu machen“, sagte John Demjanjuk Jr. der Nachrichtenagentur AP. „Mein Vater ist mit Gott eingeschlafen als ein Opfer und Überlebender der sowjetischen und deutschen Brutalität seit seiner Kindheit“, sagte der Sohn.

Demjanjuk wurde 1920 in der Ukraine als „Iwan“ geboren. Er wuchs als Bauernsohn in einem kleinen sowjetischen Dorf auf und arbeitete als Traktorist auf einer Kolchose, als er 1940 von der Roten Armee zum Krieg gegen Deutschland eingezogen wurde. Zwei Jahre später griffen ihn die Nationalsozialisten auf, Demjanjuk landete zunächst in einem Kriegsgefangenenlager und wurde später als sogenannter Freiwilliger für das SS-Ausbildungslager Trawniki nahe Lublin ausgewählt. Nach seiner Grundausbildung wurde er nach Sobibór geschickt.

Als Sobibór nach einem Aufstand der jüdischen Häftlinge im Oktober 1943 aufgelöst wurde, schickte man Demjanjuk nach Flossenbürg. Nach dem Krieg erhielt er eine Einreisegenehmigung in die USA, wo er mit Frau und drei Kindern in Ohio lebte und als Automechaniker bei Ford arbeitete. Als er 1958 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, nutzte er die Gelegenheit, um seinen russischen Vornamen in „John“ zu ändern.

1975 bekam das Bürgerleben der Demjanjuks Risse, als ein sowjetischer Journalist Demjanjuks Namen auf einer Liste ukrainischer NS-Kollaborateure entdeckte. Er übergab das Dokument den US-Justizbehörden. Die Staatsbürgerschaft wurde ihm wieder aberkannt und die USA lieferten ihn 1986 nach Israel aus, wo er 1988 zum Tode verurteilt wurde. Staatsanwalt Michael Shaked hielt ihn für den berüchtigten „Iwan den Schrecklichen“, der die Gaskammern in Treblinka bedient haben soll.

Demjanjuk legte Berufung gegen das Todesurteil ein und wurde im Juli 1993 aufgrund von Zweifeln an seiner Täterschaft freigesprochen. „Der Fall ist abgeschlossen, aber unvollendet“, hieß es in der Begründung des Jerusalemer Gerichts. Demjanjuk erhielt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zurück und kehrte nach Ohio zurück – vorübergehend. Denn die Hinweise verdichteten sich, dass Demjanjuk eine entscheidende Rolle in Sobibór gespielt hatte. Im Mai 2009 wurde Demjanjuk nach Deutschland abgeschoben.

Mittlerweile war Demjanjuk 89 Jahre alt. Immer wieder verzögerte sich der Prozess gegen ihn, unter anderem wegen seines schlechten Gesundheitszustands. Doch am Ende sah das Gericht Demjanjuks Kriegsverbrechen als erwiesen an – für die Nebenkläger war dies das Entscheidende.

Der Lebenslauf von John Demjanjuk

3. April 1920: Der Bauernsohn Iwan Demjanjuk wird im ukrainischen Dorf Dubowi Macharynzi geboren.

Mai 1942: Der Rotarmist Demjanjuk wird nach der Schlacht von Kertsch von der Wehrmacht gefangen genommen. Anschließend wird er im SS-Ausbildungslager Trawniki als Helfer ausgebildet.

27. März 1943: Demjanjuk wird als Wachmann ins Vernichtungslager Sobibór abkommandiert.

16. September 1943: Demjanjuk wird ins KZ Flossenbürg versetzt.

Sommer 1945: Demjanjuk meldet sich in einem Auffanglager in Feldafing bei München.

Februar 1952: Demjanjuk kommt als Auswanderer per Schiff von Bremerhaven in New York an und findet Arbeit bei den Ford-Werken in Cleveland. 1958 wird er US-Bürger, heißt nun John Demjanjuk.

Mai 1976: US-Behörden ermitteln. Holocaust-Überlebende meinen, in Demjanjuk einen Wachmann aus Treblinka wiederzuerkennen. Er verliert die US-Staatsbürgerschaft.

Februar 1986: Demjanjuk wird nach Israel ausgeliefert.

April 1988: Demjanjuk wird wegen Mordes zum Tode verurteilt.

Juli 1993: Nach der Öffnung sowjetischer Archive stellt sich heraus, dass ein anderer „Iwan der Schreckliche“ in Treblinka war. Das Todesurteil wird aufgehoben, Demjanjuk zurück in die USA geschickt.

2002: Die USA verdächtigen Demjanjuk, Wachmann in Sobibór gewesen zu sein. In einem jahrelangen Verfahren wird ihm die Staatsbürgerschaft erneut entzogen.

12. Mai 2009: Demjanjuk wird nach München abgeschoben und ins Untersuchungsgefängnis Stadelheim gebracht.

13. Juli 2009: Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage wegen Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen.

30. November 2009: Der Prozess beginnt. Es werden 41 Verhandlungstage bis zum 6. Mai 2010 angesetzt.

2009 bis 2011: Der Prozessverlauf verzögert sich mehrfach. Zu den Gründen zählen Demjanjuks schlechte Gesundheit und eine Fülle von Beweisanträgen durch die Verteidigung.

22. März 2011: Die Plädoyers beginnen. Die Staatsanwaltschaft fordert sechs Jahre. Nebenkläger fordern höhere Strafen.

11. Mai 2011: Nach einem fünftägigen Plädoyer fordert die Verteidigung Freispruch.

12. Mai 2011: Das Landgericht München II verurteilt Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28.060 Menschen zu fünf Jahren Haft.

17. März 2012: Demjanjuk stirbt im Pflegeheim von Bad Feilnbach in Oberbayern.

(dapd)