Hamburg. Reinhard Goebel ist ein Archiv-Fan. Was bedeutet es, wenn man über die Sachlichkeit zur Musik kommt?

Was für ein Timing für das Projekt, das der Dirigent und Ex-Geiger Reinhard Goebel vor einigen Jahren anschob: „Beethovens Welt“, eine CD-Reihe mit Aufnahmen von dessen Zeitgenossen, die heute kaum jemand kennt, die damals aber ernsthafte Konkurrenten und wichtige Einflüsse waren.

Etwa ein halbes Beethoven-Jahr haben wir noch. Theoretisch jedenfalls, denn live im Konzert zu hören ist seiner Musik praktisch nichts.

Dirigent Reinhard Goebel mag klare Ansagen

Goebel ist einer dieser wissenshungrigen Archiv-Wühler, die erst glücklich sind, wenn sie das historische Umfeld von Komponisten und ihren Stücken gründlichst ausgeleuchtet haben. Dass Goebel mit seinem Ensemble Musica Antiqua viele Jahre in Köln gearbeitet hat, hört man beim coronabedingten Telefonat sofort. Dass er klare Ansagen mag, ebenso.

Wie sind Sie durch die letzten Wochen gekommen?

Reinhard Goebel: Wir saßen für Proben in Köln, hatte zwischendurch fünfmal Matthäus-Passion und dreimal das Beethoven-Tripelkonzert, und das alles fiel nun ins Wasser wie ein schwerer Stein.

Andererseits habe ich mein Buch über die Brandenburgischen Konzerte von Bach fertig geschrieben, die haben nächstes Jahr ihren 300. Und ich habe mir jeden Tag morgens ab 7 Uhr ein Stück aufs Stehpult gelegt und bearbeitet. Eines davon: die „Kleine Nachtmusik“, die es beim Mozartfest in Würzburg geben wird.

Das wird aber nur eine sehr kleine Nachtmusik sein können.

Reinhard Goebel: Wir werden das mit einer Kammerorchester-Besetzung spielen, das ist dort erlaubt.

Sie kommen aus der Alten Musik, da sind kleine Formate mit wenigen Musikern der Standard, für große Orchester wurde erst später komponiert. Sind die Barocker also von der aktuellen Live-Misere am wenigsten betroffen?

Reinhard Goebel: Sie werden sich wundern: Im mittleren 18. Jahrhundert gibt es plötzlich sehr wenige Stücke, die nur für Streicher sind. Mit dem, was vorn aus einem Blasinstrument herauskommt, kann man noch nicht mal eine Kerze ausblasen.

Es gibt kaum Werke, die noch für das alte Barock-Orchester ohne Bläser geschrieben sind: Violinkonzerte von Joseph Haydn oder Mozarts „Adagio und Fuge“ und die „Kleine Nachtmusik“. Dann wird’s hochproblematisch. Beethoven hat nichts für Streicher allein geschrieben, immer schon für Größeres, dann kommt erst wieder Mendelssohn. Das ist jetzt die Problematik.

Was bedeutet die Corona-Situation für die Szene der freien Ensembles, aus der Sie kommen?

Reinhard Goebel: Ich kann mich wunderbar beschäftigen. Aber was das für die anderen bedeutet...? Natürlich habe ich Angst und hoffe, dass ich spätestens im Oktober wieder einem geregelten Bühnenleben nachgehen kann.

Lassen Sie uns über Ihr Beethoven-Projekt reden. Es ist hochspannend, zu zeigen, wen es sonst noch gab. Wie einfach war es, das den Orchestern schmackhaft zu machen? Die Welt hat ja nicht unbedingt darauf gewartet, Stücke von Reicha oder Romberg zu hören.

Reinhard Goebel: Wir haben das damals mit meinem Ensemble Musica Antiqua und Bach ähnlich gemacht. Bach wird ja in keiner Weise gemindert, wenn man auch Zelenka, Heinichen oder Veracini kennt.

Ich wollte für mich selbst einen Erziehungsroman schreiben: Was tragen diese anderen zu einem Ereignis bei? Die Echtzeit von Beethoven war voll mit einer irrsinnigen Menge Musik und Komponisten, die einen neuen Stil schrieben. „Historische Musik“ wurde damals nur im Promille-Bereich gemacht, alles war neu und experimentell.

Es war ein Roulette-Spiel! Man muss auch die Gründe dafür kennen, warum jemand nicht mit Augenhöhe auf Beethoven kam: Entweder starben die Leute früh, wie Anton Eberl, der als unglaubliche Konkurrenz angesehen wurde, oder Beethoven hat sie – wie Reicha – aus Wien weggeekelt. Oder er hat sie, wie den Geiger Franz Clement, einfach übersehen…

… aber wir können uns schon darauf einigen, dass Beethovens Musik nicht so ganz schlecht ist und es verdient hat, bekannt zu bleiben?

Reinhard Goebel: Es ist wichtig, diese Stücke der anderen gut zu spielen. Dann kann nachher der Hörer entscheiden: Das würden wir gerne häufiger hören.

Was löst dieses Wissen aus, dass es nicht nur Riesen wie eben Beethoven gab, sondern auch Zwischengrößen? Wird dessen Musik dadurch „besser“?

Reinhard Goebel: Sie wird noch besser. Und die Orches-ter, die sind begeistert! Endlich mal wieder Musik von der Pike auf machen. Beim Clement-Violinkonzert kam schon nach der ersten Probe der Konzertmeister: Ach, könnten Sie mir bitte mal die Solo-Stimme geben?

Eine Sinfonie von Eberl als Hinführung zur „Eroica“, dann stellt man plötzlich fest, was gleich ist und was ähnlich. Das ist viel schöner als vorher ‘ne gelangweilte Haydn-Sinfonie, danach ein Mozart-Klavierkonzert und irgendeine Beethoven-Sinfonie.

Mal fast gar nicht rhetorisch gefragt: Kann es sein, dass manche Orchester zu faul sind, sich das zu erarbeiten, und manche Veranstalter zu feige, solche Raritäten auf Programme zu setzen?

Reinhard Goebel: Nein. Es gibt gar keine Noten von den Stücken. Aber zu faul sind nicht die Orchester – zu faul sind die Dirigenten, die das vorzubereiten und vorzuschlagen haben.

Die sind dramaturgisch einfach nicht geschult. Schauen Sie, ich unterrichte in Salzburg am Mozarteum Musik des 18. Jahrhunderts für Dirigenten. Das wollen die nicht… Die stellen sich vor, das Dirigieren beginnt bei Strawinskys „Feuervogel“ oder bei Zimmermanns „Soldaten“… Selbst eine Haydn-Sinfonie, die spielt man mal eben in der Generalprobe an…

Es fehlt am Interesse für anderes Repertoire! Ich saß einmal neben dem Wiener Musikverein in einem Café, mit einem Musiker eines berühmten Orchesters, der fragte, völlig erschreckt: Wo haben Sie denn diese Noten her?! Ich sagte: 25 Meter von hier liegt das…

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In "Erstklassisch mit Mischke" spricht Kultur-Chefreporter Joachim Mischke mit Stars der Klassik.

Was im Werkkatalog von Beethoven halten Sie für ernsthaft überschätzt?

Reinhard Goebel: Gar nichts eigentlich, vielleicht „Wellingtons Sieg“… Das ist schon alles ganz, ganz toll. Aber ich mache Clement, Hummel, Reicha und Romberg ja nicht, weil ich Beethoven doof finde.

Sondern weil ich es doof finde, im Beethoven-Jahr von diesen 15 bis 20 Feuerwerken, die sowieso an jeder Milchkanne gespielt werden, auch noch meine Version vorzustellen.

Tempi und Tempo-Angaben, erst recht bei Beethoven, sind ein heikles Thema. Was, wenn ein Dirigent sagt: So fühle ich das, so mache ich das? Ist das dann legitim?

Reinhard Goebel: Oh mein Gott… Da kriege ich Ausschlag. Wenn er etwas fühlt, soll er seine eigene Musik machen. Wir müssen die Stücke schützen vor den Leuten, die das fühlen. Der Spruch dazu heißt: Die Geschichte kennen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten.

Je weiter weg eine Musik ist, umso mehr Bildung erfordert sie doch! Man muss doch den theoretischen Background kennen, um die Gestaltungsmerkmale richtig zu deuten!

Haben Sie schon mal bei Orchestern aufgegeben mit dem Erklären und der Taktstock wurde zum Beißholz?

Reinhard Goebel: Nein. Ich kenne mein Metier, ich weiß, worüber ich rede. Die Orchester sind in Deutschland so was von alert. Ich kann meine sachlichen Lösungen ja zutiefst begründen. Meint jemand, er fühlt das anders, würde ich sagen: Dann gehen Sie doch mal zum Therapeuten.

Wir brauchen als Interpreten mehr Wissenschaft, wollen Sie das zu morgen bitte 100 Mal auswendig lernen, sage ich meinen Studenten. Mehr Wissen! Das ist für mich bei jedem Werk das Allerdringendste: Wann, für wen, in welcher Besetzung, in welchem Raum? Ich komme zur Musik über die Sachlichkeit.

Was wäre das erste Stück, dass sie nach dem Ende dieser Krisensituation dirigieren wollen würden?

Reinhard Goebel: Ich würde gern die Wassermusik von Händel machen, oder ein grandioses Telemann-Stück. Etwas ganz Grandioses aus dem frühen 18. Jahrhundert.

Aktuelle Goebel-CDs:

„Beethoven’s World: Clement Violinkonzerte Nr. 1 2“ Mirijam Contzen, WDR Sinfonieorchester (Sony Classical).


  • „Reicha / Romberg Konzerte für zwei Celli”

  • Bruno Delepelaire, Stephan Koncz, Deutsche Radio Philharmonie (Sony Classical). Drei weitere CDs folgen.

  • Am 19. Juni erscheinen „Kantaten der Bach-Familie“ mit dem Bariton Benjamin Appl und den Berliner Barock Solisten (Hänssler Classic).