Hamburg. Im Podcast erzählt Klaus Püschel, warum Mütter ihren Kindern Blut abzapfen, Fäkalien spritzen oder Kalkreiniger einflößen.

Diese liebevolle Geste, mit der die Frau ihrer kleinen Tochter über den Kopf streichelt. Dieser sorgenvolle Blick, als sie den Ärzten von der ungewöhnlichen Blässe des Mädchens erzählt. Davon, dass es schlapp wirkt. Eine fürsorgliche Mutter, die dringend ärztliche Hilfe für ihr Baby sucht, präsentiert sich den Medizinern. Immer neue Tests werden vorgenommen, um den Ursachen für die rätselhafte Blutarmut auf die Spur zu kommen, die das Mädchen schließlich in einen lebensbedrohlichen Zustand bringt. Die Ursache für das Leiden bleibt zunächst im Dunkeln.

Am Ende wird das Kind gerettet, aber nicht durch ein besonders effizientes Medikament und auch nicht durch eine komplizierte Operation. Tatsächlich ist es eher erfolgreiche Detektivarbeit. „Bei mir kam der Verdacht auf, dass die Mutter ihre Tochter entblutet“, erzählt Rechtsmediziner Klaus Püschel im Abendblatt-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher. „Daraufhin haben wir die Mutter von dem Baby getrennt. Es erholte sich zusehends.“

Mutter leidet unter Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

Gute Mutter, böse Mutter: Die Frau litt unter dem sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, dessen Name auf die Lügengeschichten des Barons von Münchhausen zurückgeht. „Es ist eine bizarre Form der Kindesmisshandlung“, erklärt Püschel. „Bei diesem Krankheitsbild gibt eine nahe Beziehungsperson des Kindes, in den meisten Fällen die Mutter, fälschlich Symptome an, an denen ihr Kind angeblich leidet. Oder sie manipulieren an Sohn oder Tochter, bis diese zum Teil dramatische Krankheitszustände aufweisen. Und dann verlangen sie für ihr Kind Therapien, Operationen und Medikamente.“

Warum tut eine Frau so etwas? Bei Täterinnen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ist es keinesfalls Sadismus, der die Frauen antreibt. „Vielmehr ist es ein Gefühl der Isolation oder Einsamkeit, oft gepaart mit Bindungsstörungen, nicht selten wegen traumatischer Erlebnisse in ihrer Kindheit oder einer emotionalen Vernachlässigung“, so Rechtsmediziner Püschel. „Die Täterinnen sind in einer innerseelischen Notlage, auf die sie über den Umweg des als krank präsentierten Kindes aufmerksam machen. Letztlich geht es ihnen darum, selbst Hilfe zu bekommen.“

Gesundes Kind bekommt Chemotherapie

Eine Mutter aus Norddeutschland hat ihren damals drei Jahre alten Sohn schwer krank gemacht – bis sein Leben am seidenen Faden hing. „Es war ein Drama zu sehen, wie schlecht es ihm ging“, erzählt Püschel. Der Junge hatte unter anderem sehr hohes Fieber, sein Blutdruck fiel ab, und er litt unter großen Schmerzen. Das Kind war in erbärmlichem Zustand, musste wiederholt auf die Intensivstation verlegt und auch intubiert werden. Zuletzt gingen die Ärzte von einer Krebserkrankung aus, der Junge bekam Chemotherapie.

Schließlich aber keimte der Verdacht auf, dass das Kind bewusst krank gemacht worden sein könnte. Das Klinikpersonal fand heraus, dass die Mutter ihm unter anderem mit Fäkalien oder Speichel verseuchte Substanzen gespritzt hat. Der Vater des Jungen ließ sich daraufhin scheiden, die Mutter wurde in der Psychiatrie behandelt und später vor Gericht gestellt. „Man muss jemanden verletzen, um selbst wahrgenommen zu werden“, sagte sie im Prozess. Das Gericht verhängte zwei Jahre und neun Monate Haft gegen die 30-Jährige unter anderem wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen.

Ausgehungerter Junge stiehlt anderen die Pausenbrote

Mediziner kennen viele ähnliche Fälle, in denen die Kinder furchtbare Leidenszeiten durchleben. So wie der Junge, der vier Jahre lang an Durchfall leidet, immer weiter abmagert und nicht mehr wächst. Bei ihm hat man zunächst eine seltene Darmerkrankung vermutet. Schließlich stellt sich heraus, dass ihm seine Mutter jahrelang Abführmittel verabreicht hat und ihm zudem nicht ausreichend Nahrung gibt. Das Kind ist teilweise so ausgehungert, dass es Klassenkameraden die Pausenbrote stiehlt.

Eine andere Mutter hat ihrer Tochter wiederholt Kalkreiniger eingeflößt, um sie dann wegen vermeintlich unerklärlicher schwerer Beschwerden in einer Klinik behandeln zu lassen. „Angebliche epileptische Anfälle, das Malträtieren der kindlichen Haut mit spitzen Gegenständen oder die Verabreichung von Medikamenten: Die Täterinnen nutzen das ganze Spektrum der Medizin“, weiß Püschel. „Und manche Manipulationen gehen so weit, dass die daraus resultierenden schweren Symptome sogar zu Operationen führen mit der Folge erheblicher Schädigung, die eigentlich gar nicht notwendig wären.“

Mutter kassiert Geld von Krankenkassen

Überaus gefährlich sind auch manipulierte Atemstillstände, warnt Püschel. Dahinter stecken dann mitunter aktive Erstickungsmechanismen, bei denen dem Kind der Mund zugehalten oder ein Kissen auf die Atemwege gedrückt wird. So lange, bis es röchelnd oder sogar bewusstlos daliegt.

Für Schlagzeilen sorgte jüngst auch ein Fall aus Norddeutschland, in dem eine Mutter ihren vier Kindern schwere Krankheiten wie Rheuma und Glasknochenkrankheit andichtete – und damit von den Krankenkassen viel Geld kassierte. Die Mutter brachte ihre Kinder sogar dazu, im Rollstuhl zu sitzen, sie durften nur wenige Schritte am Tag laufen, bekamen Medikamente. Um alles glaubhaft zu machen, legte die 49-Jährige gefälschte Atteste vor. Sie wurde schließlich zu acht Jahren Haft verurteilt.

Auch dieser Mutter wurde von psychiatrischen Sachverständigen das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom attestiert. Doch es ging der 49-Jährigen vor allem um ihren Vorteil, urteilte das Gericht. Die Frau habe ihre Kinder nicht geliebt, sondern sie nur als Mittel benutzt, um möglichst viel Geld zu machen und ihre Geltungssucht zu befriedigen.