Berlin. Unser Autor kann sich nicht mehr auf Weihnachten freuen. Das liegt auch an einem Versprechen, das seine Mutter nicht einlösen konnte.

Weihnachten ist das Fest der Familie. Doch wenn ein Familienmitglied nicht mehr lebt und man weiß, dass ein Stuhl beim Weihnachtsessen leer bleibt, kann man sich nicht mehr richtig darauf freuen. So wie es unser Autor schmerzlich erfahren musste, nachdem seine Mutter starb. Vor neun Jahren hat er sie an Weihnachen das letzte Mal gesehen.

„Nächstes Jahr bekommst du auch etwas“, sagte meine Mama. Sie saß auf dem Sofa, und ihren Augen war anzumerken, wie unangenehm ihr die ganze Sache war. Wieder einmal habe das Geld nicht gereicht, um mir ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. Doch dieses Mal war es anders. Mamas Blick war so traurig, schuldig, irgendwie leer. „Nächstes Jahr, Benny. Ich verspreche es dir.“

23 Tage später war Mama tot. Sechs Jahre und schier unermüdlich kämpfte sie gegen die Tumore. Erst ihre Brust, dann im Kopf. Sechs ganze Jahre. Ein Prozent hatten ihr die Ärzte gegeben. Damals, im Dezember 2005, als sie feststellten, dass „der ganze Körper von Metastasen zerfressen“ sei. Ich weiß gar nicht, wer diesen Satz damals zu mir, dem mitten in der Pubertät hängenden voll-pickeligen Teenager gesagt hatte. Es ist nur einer dieser Sätze, die mir sofort einfallen, wenn ich an die Zeit, den Krebs und an meine Mama zurückdenke. Sie haben sich tief in mein Gehirn gebrannt.

Mama und ich. Auch wenn wir wie viele andere Familien unsere Probleme hatten, war diese Beziehung, diese Liebe, so ehrlich und aufrichtig, wie ich es seitdem nie mehr gespürt habe. Das Gefühl, nur du selbst sein zu können, mit all deinen Stimmungen und Launen, deinen Schwächen. Für mich war sie nicht nur meine Mutter, sie war vor allem eins: meine beste Freundin.

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Das Hartz IV reichte nicht für ein letztes Geschenk

Vielleicht war das auch der Grund, warum es mich nicht gestört hatte, dass sie an Ihrem letzten Heilig Abend nichts schenken konnte. Ich wusste, dass das Hartz IV wieder mal gerade so gereicht hatte, um meiner kleinen Schwester ein Geschenk auf Ebay zu ersteigern. Gebraucht, aber was juckt das schon ein achtjähriges Mädchen? Was mir eher Angst machte, war diese Leere, die seit meiner Ankunft am Tag vor Weihnachten, ständig anwesend zu sein schien. Dabei war doch eigentlich alles wie immer.

Der Baum, den mein Stiefvater im Wald geschlagen hatte, war prächtig mit Weihnachtskugeln geschmückt. Ich erinnere mich, wie sich meine Mama über die Krone und seine krumme Spitze mokierte. Es schien so, als wolle sie alles perfekt haben, an diesem, ihrem letzten Weihnachten. Deshalb ärgerte sie sich auch sehr, dass ich wie immer zu spät kam. „Du bist wie dein Vater!“ Sie zog wie immer die Papa-Karte. Den Mann, den sie vor zehn Jahren für einen anderen verließ, und dessen ständige Unpünktlichkeit wohl auch ein Grund für die Trennung war.

Mein Zuspätkommen erzürnte meine Mutter so sehr, dass sie in Tränen ausbrach. Wie immer in solchen Momenten verschwanden wir beide auf der Toilette. Sie saß dann auf dem Klo, ich gegenüber, auf einer Stufe vor der Dusche. Tür abgeschlossen. Krisensitzung.

Als ich 2010 von meiner Familie weg in die Großstadt zog, schwebte der Krebs wie ein Damoklesschwert über unserer Familie. Dennoch waren wir alle hoffnungsvoll, der letzte Ausbruch in Mamas Gehirn lag zwei Jahre zurück. Sie hatte sich gut erholt von der Strahlen- und Chemotherapie und dem Eingriff, bei dem ihr ein Stück Kleinhirn entfernt wurde. Das war nicht abzusehen. Ich weiß noch, wie sie sich nach der Narkose die Schläuche aus dem Kopf zog, um sich anzuziehen und nach Hause zu gehen.

Ich hatte damals gerade mein Abitur in meiner Heimatstadt angefangen, ich war ambitioniert, aber kein guter Schüler. Mein Ziel, das Sportjournalismus-Studium, und dann irgendwann mal die großen Fußballspiele kommentieren: Europapokal, Champions League, die Weltmeisterschaft. Voller Stolz erzählte ich Mama im Krankenhaus von einer Eins minus in meiner letzten Latein-Klausur. Auch wenn sie nicht wissen konnte, dass ich den meisten Teil des Textes von meiner Sitznachbarin abgeschrieben hatte, schien ihr die Note egal zu sein. Mehr als ein kaltes „schön“ konnte sie sich nicht aus ihren Lippen pressen, als sie in ihrem Bett in der Aufwachstation lag. Man sah deutlich, wie der Krebs nicht nur an ihrem Körper sondern auch ihrem Geist gezehrt hatte. Wie sehr er sie verändert hatte.

Mama wurde eine ihrer Brüste abgenommen

Wenn du als 14-Jähriger Teenager erfährst, dass deine Mutter sterbenskrank ist, gerät alles andere in den Hintergrund, du fühlst dich plötzlich sehr erwachsen — und sehr allein. Auf einmal spürst du die Härte des Lebens, als würde sie dir mit einer Faust in dein Gesicht schlagen. Um dann, wenn du dich gerade davon erholt hast, gerade wieder aufgestanden bist, wieder auf dich einzuschlagen, immer und immer wieder. Nach dem ersten Schlag 2005, bei dem Mama eine ihrer Brüste abgenommen werden musste, und durch eine abnehmbare Gummi-Brust ersetzt wurde, kam der zweite Schlag zu meinem 18. Geburtstag. Und dann der Knockout im Januar 2012, ein halbes Jahr vor meinem Abitur.

Kurz vor unserer Krisensitzung auf dem Klo war Mama aus dem Krankenhaus entlassen worden. Das dritte und letzte Mal. Der Krebs hatte sich zurückgemeldet. Wieder das Gehirn. Erneut musste sie operiert und bestrahlt werden. Erneut musste sie diese Tortur durchstehen. Die aufgeblähte Haut. Der Haarausfall. Der Muskelschwund von vielem Liegen in fremden und zu ungemütlichen Krankenhausbetten. Der Rollstuhl. Das Ungewisse. Die Angst. Wie oft kann ein Mensch so etwas durchstehen?

Mama wusste in dem Moment, dass sie es dieses Mal nicht überleben wird. Kurz vor Weihnachten teilten ihr die Ärzte mit, dass sie ihr nicht mehr helfen können. Mama sagte uns davon kein Wort. All das erfuhr ich Jahre später von meinem Stiefvater. Ihr Gefühlsausbruch, ihr fast schon aufdringlicher Drang zur Perfektion, die Leere in ihren Augen - all das ergab plötzlich Sinn. Es passierte nicht, weil sie sich so sehr über mein Zuspätkommen ärgerte oder weil sie etwa Weihnachten so liebte. Sondern weil sie wusste, dass das ihr letztes Weihnachten sein würde. Was sie wohl gefühlt haben muss?

Weihnachten fühlt sich anders an

Seitdem sind acht Weihnachten vergangen. Und mit jedem von ihnen meine Freude daran. Mit jedem Tag, mit dem der 24. Dezember jedes Jahr näher rückt, wird meine Traurigkeit größer. Ich spüre keine Vorfreude mehr. Als Kind konnte ich es kaum erwarten, nach dem Essen die lahmen Großeltern samt angetrunkenem Opa aus den Stühlen zu kriegen, um endlich die Geschenke auszupacken. Als die Welt viel zu groß, und ich viel zu klein war, als meine Eltern mich beschützen mussten. Weihnachten erinnert mich daran, wie sehr ich diese Zeit vermisse. Und wie sehr mir meine Mama fehlt. Gleiches gilt übrigens auch für ihren Kartoffelsalat, der für immer geschmacklich unerreichbar bleiben wird.

An unserem letzten Weihnachten schenkte ich Mama Karten für ein Konzert ihrer Lieblingssängerin, das wir zusammen besuchen wollten. Eine Woche vorher fand ihre Beerdigung statt.