Berlin. Zwei Männer telefonieren an Heiligabend, damit sich der eine von beiden nicht einsam fühlt. Die Freunde haben sich noch nie gesehen.

Heiligabend ist für ihn ein Tag wie jeder andere, sagt Horst S. Trotzdem wird er an diesem Nachmittag, an dem die Welt die Geburt von Jesus Christus feiert, auf einen besonderen Anruf warten.

Wenn die Dämmerung eintritt, die Weihnachtsbeleuchtung Balkone, Gärten und Fenster feierlich erleuchtet und die Kerzen an den Weihnachtsbäumen angezündet werden, will Reinhard P. sich bei ihm melden. So haben sie es verabredet.

Die Nachnamen der beiden Männer sind auf ihren Wunsch abgekürzt. Auch zum Schutz des älteren. Horst S. ist 88 Jahre alt und Reinhard P. ist 70. Sie verbindet eine Freundschaft, aber gesehen haben sie sich noch nie. Und sie werden es auch nicht. Auch das ist abgemacht. Lesen Sie auch: Corona-Lockdown an Weihnachten: Diese Regeln gelten

Sie telefonieren nur einmal in der Woche miteinander.

Corona: Acht Millionen ältere Deutsche von Isolation betroffen

Horst S. ist einer von acht Millionen Deutschen im Alter von 60 bis 99 Jahren, die sich zeitweise einsam fühlen oder von Isolation betroffen sind. Das ist eine Berechnung des Telefonnetzwerks Silbernetz, aus Daten des Deutschen Alterssurveys und des Statistischen Bundesamtes.

Im Deutschen Alterssurvey gab bereits ein Drittel der Befragten im Alter von 40 bis 85 Jahren an, dass Einsamkeit ihre Gefühlslage beschreibe.

"Durch Corona in die Isolation gedrängt"

Und die Einsamkeit im hohen Alter ab 85 Jahren steige gerade während der Corona-Pandemie erheblich an. „Durch Corona sind auch die aktiven älteren Menschen in die Isolation gedrängt“, berichtet Elke Schilling, Initiatorin von Silbernetz e.V. in Berlin. Gerade die seien es nicht gewöhnt, keinen Kontakt zu haben und nicht rausgehen zu können.

„Sie sind rausgeworfen aus ihrem Alltag und das ist schmerzlich.“ Schilling wünscht sich von der Politik mehr Vorsorge für die 2,4 Millionen über 85-Jährigen in Deutschland, von denen fast 80 Prozent noch in den eigenen vier Wänden leben und immerhin über 60 Prozent „nicht internetfähig“ seien. Den meisten fehlen im Moment die Informationen, um sich Hilfe zu holen. Lesen Sie hier: Weihnachten in Bethlehem – ohne Touristen und ohne Gläubige

Ähnlich wie bei einer Partneragentur

Bei Silbernetz können bundesweit Menschen ab 60 Jahren anrufen. „Wenn man jemanden zum Reden braucht“, sagt Horst S., so war es bei ihm als er vor zwei Jahren zum ersten Mal zum Telefon griff. Er hatte zunächst Kontakt zu einem Mann, der sich irgendwann nicht mehr meldete.

Vor einem Jahr wurde ihm dann Reinhard P. vermittelt. Das funktioniert wie bei einer Partneragentur, Hobbys und Eigenschaften werden abgeglichen. Ob es dann passt, müssen die beiden selbst herausfinden.

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Verheiratet, keine Kinder

Horst S. ist verheiratet mit Inge, sie ist 85, sie haben keine Kinder. Inge braucht Pflege, wie sehr will S. nicht erzählen. Sie leben in einem Reihenhaus in Berlins Süden, er meist im Untergeschoss, sie meist oben. Er tut das, was er noch kann.

Er kauft ein, während Corona meist sehr früh morgens, gegen 7.30 Uhr. Mit seinem Wagen fährt er zum nächsten Supermarkt, um Kontakte zu vermeiden. „Da ist noch nicht viel los“, sagt er am Telefon. Der 88-Jährige berlinert ein bisschen, schließlich ist er 1932 in Berlin geboren worden und nie weggezogen.

Horst S.: Was fehlt, ist das Gespräch

Einmal am Tag kocht er etwas zu essen. „Ich kann alles zubereiten“, sagt er stolz und wenn er mal nicht wisse wie, dann schaue er im Internet nach. Manchmal arbeitet er im Garten. „Langeweile habe ich nie“, erklärt er. „Habe ich im Leben nicht gehabt.“ Was ihm fehle, sei das Gespräch. Auf die Ehefrau angesprochen, erklärt er, dass man jetzt schon 65 Jahre verheiratet sei: „Da kennt man sich ziemlich gut und hat sich nichts Neues mehr zu erzählen.“

1946 mit 14 Jahren hat er auf dem Bau angefangen, hat Zimmermann gelernt. Er arbeitete für verschiedene Firmen, als seine letzte Firma pleite ging, wechselte er mit 55 Jahren in die Bauaufsicht vom Bezirk Steglitz.

Mit 60 ging er in Rente, die Wirbelsäule war kaputt vom vielen Schleppen in seinen Gesellenjahren. Es reichte. Heute hat er einen Schwerbehindertenausweis, er hat zu 90 Prozent Knieprothesen in beiden Knien. „All das aufzuzählen, sprengt den Rahmen.“ Horst S. hält zwar manches zurück, aber er redet gern.

Übrig sind nur noch ein paar Bekannte

Enge Freunde habe er nie viele gehabt und die wenigen seien schon tot. Genauso wie sein zwei Jahre älterer Bruder. Übrig seien noch ein paar Bekannte. Als das mit Corona anfing, habe eine davon für ihn und seine Frau eingekauft. Aber nach ein paar Wochen habe er den Einkauf wieder selbst übernommen, „sonst hat man immer das gleiche Essen Zuhause“.

„Als Reinhard das erste Mal anrief, habe ich sofort gemerkt, dass es passt“, erinnert er sich. Und er gerät fast ein bisschen ins Schwärmen. „Das ist ein wechselseitiges Gespräch. So von Mann zu Mann.“ Das Spektrum reiche von Zubereitung der Gans, Reinhard empfehle das Braten im Römertopf, über Gartenarbeit, da weiß Horst mehr, und Reisen.

Auf die Frage, ob er sich nach den Gesprächen mit Reinhard besser fühle, antwortet Horst S. : „Nicht leichter und nicht besser. Ich will einfach nur mit ihm sprechen.“ Auch interessant: Wie Spahn, Wieler und Co. Im Lockdown Weihnachten feiern

Kontakt nach stringenten Regeln

Mehr als Sprechen wird es nach den Regeln von Silbernetz auch nicht geben. Zum Schutz der Ehrenamtlichen.

Der Ehrenamtliche in Horst S.s Leitung ist der 70-jährige Reinhard P. Der beschreibt den Kontakt am Telefon so: „Ich höre ihm zu und er mir.“ P. hat eine Frau und eine erwachsene Tochter. Heiligabend wird er mit beiden in ihrer Berliner Wohnung feiern.

Eine alleinstehende Nachbarin ist außerdem eingeladen. Sie werden erst Kaffee trinken, dann spazierengehen, beten und singen. Und zwischen Kaffee und Spazierengehen will er Horst anrufen. „Ich will ihm ja nicht zu nahetreten, aber es wird so gegen 16 Uhr sein, wenn es ihm dann passt.“

Heute gibt er, und morgen bekommt er selbst

P. beschreibt Horst S.: „Er ist eher zurückhaltend und würde nie deutlich sagen, dass er einsam ist.“ Horst mache für seine Frau alles, vielleicht habe man sich trotzdem ein bisschen auseinandergelebt.

Ansonsten hält sich P. zurück. Er könne Horst gut um Rat fragen, was handwerkliche Dinge betreffe. Das mit Horst sei ein bisschen „Geben und Nehmen“. Heute gibt er, und morgen bekommt er selbst.

„Ich hoffe, wenn es mir einmal so geht, dass sich vielleicht auch Menschen um mich kümmern.“ Reinhards Stimme klingt weich und ausgeruht, seine Aussprache ist leicht nordisch angehaucht. Seine 96-jährige Mutter lebt noch in Hamburg. Sie will er am zweiten Weihnachtstag besuchen.

„Im Grunde geht es darum, zuzuhören“

Der 70-Jährige war früher Lehrer für Wirtschaftsmathematik, aus dem Norden zog er erst nach Hannover, dann nach Berlin. Mit 65 Jahren ist er in Pension gegangen.

Reinhard spricht von sich selbst als eher „spirituellem Typen“. Der sich kümmern will und der gern in der Natur ist, weil er dann mehr Kontakt zu sich habe. Er versucht, zu erklären, woran er glaubt. Dass man um sein Inneres zu erkennen, die Stille brauche, die es in der Stadt nicht gebe, weil einen zu viel ablenke. Auch das mache einsam, wenn man nicht bei sich ist. Mehr zum Thema: Weihnachten: Wann, warum und wie feiern wir eigentlich?

Wenn er mit Horst spreche, fühle er Fürsorglichkeit. „Im Grunde geht es darum, zuzuhören.“ Dass sei für Männer nicht leicht: „Andere Männer in meinem Alter tun sich schwer mit Gesprächen oder mit Freundschaften. Freundschaft heißt für mich, sich zu offenbaren und nicht nur Bier zu trinken.“

Heiligabend - jeder nach seiner Facon

Am Heiligabend wird es bei Horst S. und seiner Frau Kartoffelsalat und Würstchen geben. Das müsse an Feierlichkeit ausreichen. Er sei auch nicht gläubig, nicht so wie Reinhard. Auf der Terrasse habe er ein paar Zweige zusammengestellt und geschmückt. „Aber wie gesagt, der Heiligabend ist für mich ein Tag wie jeder andere.“ Jeder solle nach seiner Facon leben. Das höre allerdings beim Impfen gegen das Coronavirus auf, findet er.

Denn er werde sich sofort impfen lassen. Er holt ein bisschen aus: „Nach dem Krieg, 1945, haben die Amerikaner im amerikanischen Sektor angeordnet, dass sich die Leute gegen Typhus und Cholera impfen lassen und wer das nicht gemacht hat, hat keine Lebensmittelkarten bekommen.“

Gans mit Knödeln und Rotkohl

Er sei zwar nicht dafür, Lebensmittel einzuschränken oder alle zwangszuimpfen. Aber er könne nicht verstehen, warum Leute dagegen seien. Er sei natürlich durch sein Alter hochgefährdet. Aber jeder habe doch Verwandte und Freunde, auf die man Rücksicht nehmen müsse. „Man lässt sich nicht nur für sich impfen, sondern für alle anderen.“

Aber nicht jeder verstehe das eben.

Für den ersten Weihnachtstag hat Horst Seiters Gans mit Knödeln und Rotkohl bei einem Supermarkt bestellt. Die er natürlich persönlich abholen will.

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Von Heiligabend um 8 Uhr morgens bis Neujahr um 22 Uhr abends ist das Telefon von Silbernetz e.V. unter 0800-4708090 rund um die Uhr erreichbar – deutschlandweit. Vertraulich, anonym und kostenfrei finden Menschen ab 60 Jahren ein offenes Ohr. Die Arbeit von Silbernetz wird durch das Land Berlin, Stiftungen, Unternehmen und Spendern finanziert. Spendenkonto Silbernetz e.V.: IBAN DE20 4306 0967 1218 6586 00.

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