So geht die deutsche ESC-Hoffnung Michael Schulte ins Finale
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Von Bastian Angenendt
Lissabon. In den Tagen vor dem ESC-Finale in Lissabon wurden die Favoritenrollen neu verteilt. Auch der deutsche Teilnehmer hat davon profitiert.
Ja, er könne die Zeit auch noch genießen, sagt Michael Schulte. Aber jetzt, so kurz vor dem ESC-Finale in Lissabon, in dem er Deutschland nach drei Jahren auf den untersten Plätzen mal wieder ein etwas weniger peinliches Abschneiden bescheren will, „wird es auch Zeit“.
Turbulente Tage liegen hinter dem 28-Jährigen aus Buxtehude. Genau eine Woche vor dem Finale am heutigen Samstag (21 Uhr, ARD) ist er nach Portugal gereist und hat seitdem PR-Termine für einen Monat abgerissen. Smartes Statement hier, kleine Gesangseinlage dort, Videodrehs, Proben, und das ganze wieder von vorn. (Hier finden Sie einen Überblick über alle ESC-Finalisten.)
Eigentlich ist es erstaunlich, wie unaufgeregt und gut gelaunt der Lockenkopf noch am Donnerstagabend zum x-ten Mal die Fragen nach seinem verstorbenen Vater beantwortet, von dem sein „You Let Me Walk Alone“ handelt. Wie er in die Mikrofone sagt, wie sein Befinden, seine Ziele, sein Weg hierhin waren und sind.
Kurz vorher hat er noch eben die Gäste beim Empfang der deutschen Botschaft verzückt. Mit vier Liedern in ebenso vielen Sprachen. „Ich habe ja gesagt, er soll für ganz Europa antreten, weil er einfach jede Sprache beherrscht”, witzelt Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis im Anschluss. „Damit hätten wir ein Problem weniger.“
Michael Schulte setzt auf reduzierte Bühnen-Show
Probleme hat Schulte allerdings ohnehin nicht, zumindest nicht, wenn es um seine Aussichten für den Samstag geht. Mit seiner Art hat er bei vielen in Lissabon Sympathien gesammelt. Auch sein Plan für die Bühne sticht ein wenig heraus, weil er so reduziert daherkommt wie kaum ein anderer. Musik und Stimme sollen die Punkte holen.
Das könnte für Jury-Experten und Zuschauer ein wohltuender Kontrast zu den Blinkekleidern, Feuerfontänen und Lichtblitzen vieler anderer der insgesamt 26 Auftritte sein. Eine gute Ausgangsposition hat Schulte allemal.
Dass das alles allerdings auch ganz schnell wertlos werden kann, haben die letzten Tage in Lissabon ebenfalls gezeigt. Netta aus Israel, die mit ihrem Song „Toy“ wochenlang ganz oben auf den Listen der Experten und Buchmacher stand, wegen ihres abwechslungsreichen, schrillen Stils und wegen ihrer Aussage, die so gut zur „#metoo“-Debatte passt, gilt plötzlich nicht mehr als die Top-Favoritin.
Das überrascht, weil in den letzten Tagen in Lissabon kaum ein Vorbeikommen an ihrem Song war. Im Supermarkt, in der Shopping-Mall, aus den tragbaren Lautsprechern der Fans im „Eurovision Village“ in der Innenstadt – überall konnte man Netta rappen, stottern, singen hören. Ihre Lied gewordene Anklage (I’m not your toy, you stupid boy“) hat, so scheint es, eine große, laute Fangemeinde.
Die neue ESC-Favoritin kommt aus Zypern
Etwas weniger euphorisch kamen die deutschen Fans daher. Tim (26) zum Beispiel wäre schon froh, wenn es Michael Schulte nicht komplett versaut – mit vorsichtigem Optimismus. „Egal, wie schlecht es vorher auch gelaufen ist, man hofft dann ja doch immer aufs Neue“, sagt der 26-Jährige. „Das ist wie beim HSV.“
Diese ESC-Momente bleiben in Erinnerung
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Die neue Favoritin der Wettanbieter kommt indes aus Zypern: Eleni Foureira hat sich im zweiten Halbfinale mit ihrem Dancepop-Song „Fuego“ an Netta vorbeigegroovet. Die einen sehen in ihr was Beyoncé-haftes, die anderen verstehen die Welt nicht mehr. „Das ist eben Eurovision“, sagt Michael Schulte, „man weiß es nicht. Ich glaube, im Moment gibt es viele, die gewinnen können.“
Schultes erste Show-Probe klappt so gut wie perfekt
Dem französischen Duo Madame Monsieur, das in „Mercy“ von einem auf dem Mittelmeer geborenen Flüchtlingskind singt, und dem Iren Ryan O’Shaughnessy mit seiner Ballade „Together“ werden ebenso gute Chancen eingeräumt. Letzterer wird seine allerdings nur wahrnehmen können, wenn AWS aus Ungarn vorher nicht die 20.000 Zuschauer fassende Altrice-Arena kaputtspielen.
Ihr hart gerocktes „Viszlát nyár“ kommt nach 20 eher Pop-lastigen Songs gerade recht, wenn nach der zweiten Tüte Flips vor dem Fernseher so langsam der Kopf zur Seite kippt. Wer erinnert sich nicht an die Masken-Metaler von „Lordi“?
An Michael Schulte wird man sich wohl auch noch eine Weile erinnern. Zumindest als der, der nicht ganz hinten gelandet ist – und wahrscheinlich sogar ein bisschen mehr. Bei der ersten großen Show-Probe am Freitag saß sein Song so gut wie perfekt.
Sein Ziel, in die Top Ten zu kommen, ist durchaus erreichbar. Das ist definitiv anders als beim HSV.