Die schweren Ausschreitungen in Lhasa haben nach offiziellen Angaben mindestens zehn Menschen das Leben gekostet. Bewohner der tibetischen Hauptstadt berichteten, dass die Zahl der Toten deutlich höher als offiziell angegeben sei.

Peking/Lhasa. Der US-Sender Radio Free Asia zitierte Tibeter, wonach bis zu 80 Menschen getötet worden seien. Die tibetische Exilregierung in Indien berichtete von mindestens 30 Toten. Einen Tag nach den antichinesischen Unruhen war die Lage in Lhasa am Sonnabend angespannt. Soldaten hatten Straßensperren errichtet. Panzer waren aufgefahren, wie Augenzeugen berichteten. Die Sicherheitsbehörden setzten den Teilnehmern an den Ausschreitungen eine Frist, um sich zu ergeben. Wer sich bis Montag um Mitternacht stelle, könne mit Strafminderung und "Nachsicht" rechnen.

Die tibetische Regierung bestritt, dass Sicherheitskräfte das Feuer auf die Demonstranten eröffnet haben. Tibets Regierungschef Qiangba Puncog sagte auf der Tagung des Volkskongresses in Peking: "Wir haben keine Schüsse abgegeben." Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua berichtete dagegen, die Polizei habe "Warnschüsse" abgegeben, um die Menschen zu vertreiben. Die Polizisten seien angewiesen worden, keine Gewalt gegen Angreifer anzuwenden. Tibet Regierungschef kündigte harte Strafen an: "Wir werden streng mit jenen umgehen, die das Vaterland spalten wollen."

Chinas Behörden warfen der "Clique um den Dalai Lama" vor, die Unruhen "vorsätzlich geplant" zu haben. "Wir haben genug Beweise, dass diese Aktion eine politische Verschwörung ist, die von der Clique des Dalai Lamas geplant worden ist", las eine Sprecherin im Fernsehen einen Text der Staatsagentur vor, der auch in den staatlich kontrollierten Zeitungen verbreitet wurde. Ein Xinhua-Kommentar forderte die Weltgemeinschaft auf, ihre Haltung gegenüber dem Dalai Lama zu überprüfen: "Der Dalai Lama und seine Clique hat keinen einzigen Tag von Gewalt und Terror abgesehen." Aus seinem indischen Exil hatte das religiöse Oberhaupt der Tibeter am Vortag dagegen sofort nach Ausbruch der Unruhen zur Gewaltlosigkeit aufgerufen.

Nach amtlichen chinesischen Angaben sind mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen. "Die Opfer sind alle unschuldige Bürger, die meist verbrannt sind", berichtete ein Beamter laut Xinhua. Unter den Toten seien zwei Hotelangestellte und zwei Geschäftsleute. An rund 160 Orten in Lhasa seien Feuer ausgebrochen. Es habe 40 größere Brände gegeben. Auch in einer Moschee sei Feuer gelegt worden. Es gab keine Berichte über Tote oder Verletzte unter Ausländern.

Das Staatsfernsehen zeigte am Sonnabend Bilder von randalierenden Tibetern, die Autos umstürzten, Geschäfte angriffen oder versuchten, heruntergelassene Läden oder Gitter aufzubrechen. Die Sprecherin sagte, dass es durch "eine kleine Gruppe von Leuten in Lhasa" zu Zerstörungen, Schlägereien und Plünderungen gekommen sei. Die Behörden seien in der Lage, die soziale Stabilität und die Sicherheit zu wahren. Die Verschwörung sei "zum Scheitern verurteilt".

Olympia nicht in Gefahr

Die Olympischen Sommerspiele sieht China durch die schweren Unruhen in Tibet nicht gefährdet. Auch der Fackellauf, bei dem das olympische Feuer auf den Mount Everest getragen werden soll, werde wie geplant stattfinden, sagte ein Sprecher des Organisationskomitees BOCOG, Sun Weide.

Sun sagte, das Organisationskomitee wende sich gegen jeden Versuch, die Olympischen Spiele für politische Ziele zu instrumentalisieren. Das widerspreche dem Geist der Spiele. Er räumte ein, dass protibetische Gruppen versucht hätten, mit Chinas Gastgeberrolle bei den Spielen vom 8. bis 24. August öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Anliegen zu lenken. Sie repräsentierten aber nur einen winzigen Teil der Weltöffentlichkeit. "Wir haben enorme Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft für die Olympischen Spiele bekommen", sagte er. Die Gastgeberrolle Pekings sei die Erfüllung eines Jahrhunderttraums des chinesischen Volks, "einschließlich unserer Landsleute in Tibet".

Der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Jacques Rogge, lehnte unterdessen eine Stellungnahme zu der jüngsten Welle der Gewalt in Tibet ab. Er sei nicht genau über die Proteste in Tibet informiert und es sei nicht die Aufgabe des IOC, die Menschenrechtssituation dort zu verbessern, sagte er am Freitag in Puerto Rico.

Merkel mahnt zur Gewaltfreiheit

Während der IOC-Präsident schweigt, meldet sich Bundeskanzlerin Merkel zu Wort. Angesichts der schweren Unruhen in Tibet hat sie an Tibeter und Chinesen appelliert, auf Gewalt zu verzichten und in einen direkten Dialog einzutreten. "Gewalt - egal von welcher Seite - führt zu keiner Lösung der offenen Fragen", erklärte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm am Sonnabend im Namen der Kanzlerin.

Auch die USA forden einen Verzicht auf Gewalt. US-Botschafter Clark Randt traf am Freitagabend in Peking mit Vizeaußenminister Zhang Yesui zusammen. Als Reaktion auf die Vorgänge stürmten Exiltibeter am Sonnabend in Sydney das chinesische Konsulat. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei.

Die UN-Menschenrechtskommissarin Louise Arbour zeigte sich ebenfalls besorgt über die Lage in Tibet. Sie rief die chinesische Regierung in einer Erklärung auf, den Demonstranten ihr Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu gewähren und keine "exzessive Gewalt" anzuwenden. Die Festgenommenen sollten gut und nach internationalen Standards behandelt werden.

China will offenbar ungeachtet der internationalen Proteste gegen die blutige Niederschlagung der Proteste in Tibet weiter mit Härte reagieren. Gegen die Demonstranten werde barsch vorgegangen, erklärte der von Peking bestellte Vorsitzende der Regierung der autonomen Region Tibet, Champa Phuntsok, am Sonnabend.

Ursprung der Gewalt

Anlass der Proteste ist der 49. Jahrestag eines Aufstandes in Lhasa gegen die chinesischen Besatzer. Die Lage in dem Himalaya-Gebiet, in manchen Regionen Chinas und in Indien, wo viele Exil-Tibeter leben, war in den vergangenen Tagen bereits sehr angespannt gewesen. Auch in Xiahe im Nordwesten Chinas protestierten am Freitag rund 200 Menschen, angeführt von buddhistischen Mönchen, gegen Chinas Herrschaft in Tibet.

Tibet wird seit dem Einmarsch der chinesischen Armee 1950 von Peking regiert. Nach einem fehlgeschlagenen Aufstand der Bewohner flüchtete der Dalai Lama nach Indien, wo er seit 1959 in Dharamsala eine Exil-Regierung führt und für die Autonomie Tibets wirbt. China lehnt dies strikt ab.