Das Parlament reißt die Kontrolle an sich. Präsident Janukowitsch verweigert den Rücktritt, aber er hat kaum noch Rückhalt und versucht angeblich das Land zu verlassen. Timoschenko kommt aus der Haft.

Kiew. Revolutionäre Umbrüche in der Ukraine: Nach zweieinhalb Jahren in Haft ist die Oppositionsführerin Julia Timoschenko wieder in Freiheit – und Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt. Das Parlament in Kiew fasste dafür jeweils Beschlüsse und ließ diese noch am späten Samstagabend in einer eigens gedruckten Zeitung veröffentlichen. Damit traten mehrere im Eiltempo von der Obersten Rada gefasste Gesetz in Kraft, darunter die Verfassung von 2004 sowie vorgezogene Präsidentenwahlen für den 25. Mai.

In einer emotionalen Rede auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew appellierte die frühere Regierungschefin Timoschenko in einem Rollstuhl, den „Kampf für die Freiheit“ der Ukraine bis zu Ende zu führen. Mehr als 100.000 Menschen jubelten der Politikerin bei Temperaturen knapp über Null zu.

Janukowitsch, der nach Angaben des Grenzschutzes das Land verlassen wollte, sprach von einem „Staatsumsturz“ und erklärte die Beschlüsse für „gesetzeswidrig“. In einem Fernsehinterview hatte er erklärt, er werde nicht zurücktreten und auch nicht das Land verlassen. Die Internetseite des Präsidenten war den ganzen Tag nicht erreichbar.

Mehrere hohe Staatsfunktionäre setzten sich ins Ausland ab, wie Medien berichteten – oder wurden an der Flucht gehindert. Russland rückte erstmals öffentlich von Janukowitsch ab. Die jüngsten Ereignisse im Nachbarland seien Beweis für den Machtverlust des Staatschefs, meinte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Alexej Puschkow, in Moskau. „Ein trauriges Ende für einen Präsidenten.“

Die in Haft an einem Bandscheibenvorfall erkrankte Timoschenko verließ am Abend Charkow und landete bald darauf in Kiew, wo die Regierungsgegner die Kontrolle übernommen haben. Sie wolle bei der nächsten Präsidentenwahl kandidieren, sagte die wohl beliebteste Politikerin des Landes. Im Februar 2010 hatte sie die Präsidentenwahl gegen Janukowitsch verloren. „Die Diktatur ist gestürzt“, verkündete die 53-Jährige.

EU-Parlamentschef Martin Schulz nannte die Freilassung der Ex-Regierungschefin einen „historischen Augenblick für die Ukraine und für Europa“. Der Oppositionspolitiker Vitali Klitschko, der ebenfalls Präsident werden will, sprach von einem „politischen K.O.“ für Janukowitsch.

In Kiew schützten sogenannte Selbstverteidigungskräfte das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei vor Übergriffen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums liefen zur Opposition über. Die Armee erklärte, sie werde sich nicht in den Machtkampf einmischen.

Janukowitsch hielt sich nach eigener Aussage im prorussischen Osten des Landes auf. „Die Ereignisse, die unser Land und die ganze Welt gesehen haben, sind ein Beispiel für einen Staatsumsturz“, sagte der Präsident. Seine Residenz Meschigorje bei Kiew war verlassen, Wachleute ließen Schaulustige zu einem „Tag der offenen Tür“ herein.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier schätzte die Lage trotz eines Abkommens zwischen den Konfliktparteien als „höchst fragil“ ein. „Die Vereinbarung ist keine Garantieerklärung für eine friedliche Entwicklung der Ukraine mit einer politischen Zukunft, die das Land beieinander hält“, sagte Steinmeier in Hofgeismar (Hessen).

Im „Spiegel“ lobte der SPD-Politiker Russlands Rolle bei den jüngsten Verhandlungen in Kiew. Moskaus Unterhändler Wladimir Lukin habe sehr konstruktiv mitverhandelt. Am Freitag hatten Regierung und Opposition auch unter Vermittlung Steinmeiers einen Kompromiss beschlossen, der einen politischen Ausweg ebnen soll. Der russische Außenminister Sergej Lawrow warnte vor rechtsextremen und ultranationalistischen Kräften in der ukrainischen Opposition.

Die Oberste Rada in Kiew wählte mit großer Mehrheit den früheren Vizeregierungschef Alexander Turtschinow zum neuen Parlamentspräsidenten. Er ist ein Vertrauter Timoschenkos. Der bisherige Rada-Chef Wladimir Rybak hatte zuvor seinen Rücktritt erklärt.

Turtschinow soll bis zur Ernennung einer Übergangsregierung die Kabinettsarbeit steuern. Zum Innenminister wurde der Oppositionelle Arsen Awakow bestimmt, Generalstaatsanwalt Viktor Pschonka hingegen entlassen. Viele TV-Sender übertrugen die Sitzung.

Experten wiesen darauf hin, dass der Staatschef trotz des Parlamentsbeschlusses formal weiter im Amt sei. Ein juristisch korrektes Amtsenthebungsverfahren müsse mehrere Hürden überwinden.

In Charkow, einer Machtbasis Janukowitschs, trafen sich Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ex-Sowjetrepublik zu einem Kongress der sogenannten Ukrainischen Front. Dabei warfen sie der Opposition einen Staatsstreich mit Hilfe der EU und der USA vor. Sie drohten mit einer Abspaltung des Landesteils.

Bei blutigen Zusammenstößen von Regierungsgegnern mit der Polizei in Kiew waren in den vergangenen Tagen auf beiden Seiten mindestens 82 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. „Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten“, sagte der Kommandant des Maidan, Andrej Parubij. „Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew.“ In westlichen Regionen hatten Regierungsgegner schon zuvor die Kontrolle über Verwaltungsgebäude übernommen.

Die Demonstrationen gegen Janukowitsch waren Ende November ausgebrochen, nachdem der Staatschef auf Druck Russlands ein historisches Partnerschaftsabkommen mit der EU auf Eis gelegt hatte.

Timoschenko war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs trotz internationaler Proteste zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. In dem nach Ansicht internationaler Beobachter politisch motivierten Verfahren wurde ihr ein Abkommen mit Russland über Gaslieferungen zum Nachteil der Ukraine zur Last gelegt.