Ich bin gerade dabei, die angeblich falschen, fehlenden oder überflüssigen Buchstaben in meinen Kolumnen der letzten Wochen einzusammeln. Nachdem ich die Diskussion über das Verwechseln von „Twitter“ und „Zwitter“ einigermaßen unversehrt überstanden habe, stoße ich beim Abarbeiten der eingegangenen Post auf die Beschwerde eines Lesers aus der Nordheide.
Ich hatte geschrieben, dass allzu viel Wissensdurst auf der „Speisekarte“ des Deutschen leicht zur Sprachverstimmung führen könne. Der Protest war deutlich: Es heiße nicht „Speisekarte“, sondern „Speisenkarte“, denn der Wirt habe schließlich nicht nur eine, sondern mehrere Speisen im Angebot.
Duden-Empfehlung: „Speisekarte“
Das „n“ im Ausdruck schien für den Leser eine wichtige Bedeutung zu haben. Nicht nur, dass er das Wort in Versalien (Großbuchstaben) präsentierte, er ließ das „N“ auch als einzigen Buchstaben in Kapitälchen erscheinen (Großbuchstabe, aber größer als die anderen Großbuchstaben), was – zumal mitten im Wort – eine ziemlich aufwendige typografische Aktion erfordert haben musste. Es wird vor Corona gewesen sein, als unser Leser die Gastwirtschaften nicht nach der Kochkunst, sondern nach dem „n“ in der „Speisenkarte“ aussuchte. Sein Motto lautete: „Hier kann man sicher gut essen, denn die wissen, wie man Speisenkarte schreibt.“
Trotzdem heißt es standardsprachlich und laut Duden-Empfehlung „Speisekarte“. Die Schreibweise „Speisenkarte“ ist zwar nicht falsch, aber selten. Wir haben es mit einer Zusammensetzung aus zwei Wörtern zu tun, fachsprachlich Kompositum genannt. Komposita bestehen aus einem Grundwort, das steht hinten und gibt Geschlecht („die“ Karte) und gegebenenfalls den Plural (die „Karten“) vor, und vorn aus einem Bestimmungswort, das die Art der Karte näher „bestimmt“. Wir kennen zum Beispiel Eintrittskarten, Fahrkarten, Kreditkarten und eben Speisekarten.
„Speisenkarte“: keine morphologische Wortbildung
Beim Bestimmungswort ist der Numerus im Allgemeinen keine Dimension und der Plural ungebräuchlich. Ein Baum hat viele Äste, trotzdem sprechen wir vom „Astwerk“ und nicht vom „Ästewerk“. In dem Nest, das das Spatzenpaar auf meiner Markise gebaut hat, sperrt eine ganze Schar von Jungen den Schnabel auf, dennoch heißt es „Vogelnest“ und nicht „Vögelnest“. Selbst die Speisekammer bleibt im Singular, obwohl sie, falls nicht gerade eine Hungersnot ausgebrochen sein sollte, mehr als eine Speise enthält.
Das „n“ in „Speisenkarte“ hat nichts mit dem Plural zu tun. Trotzdem hält es sich hartnäckig, besonders bei Leuten, die meinen, durch dieses „n“ über die Umgangssprache hinauszugreifen. Dann bildet nicht die Sprache das Wort, sondern das außersprachliche Motiv mit der scheinbaren Verpflichtung, den Plural bedienen zu müssen. In so einem Fall spricht man nicht von einer morphologischen, sondern von einer „motivierten Wortbildung“. So kam – oder seien wir vorsichtig: So könnte die „Speisenkarte“ in die Welt gekommen sein. Übrigens hieß die Speisekarte früher „Speisezettel“, und der enthielt nicht „die“ Speisen, sondern das, „was wir speisen“. Entsprechend ist die Redefreiheit in der Wortbildung die Freiheit zu reden, nicht die Freiheit, Reden zu halten – sonst müsste es ja „Redenfreiheit“ lauten.
„n“ in der Speise-n-karte als Fugenzeichen?
Womöglich handelt es sich bei dem „n“ in der Speise-n-karte jedoch um ein gut gemeintes, aber überflüssiges Fugenzeichen. Wenn Bestimmungswort und Grundwort im Kompositum allzu hart aufeinanderstoßen, sodass wir Lippen, Zunge und Kehlkopf zwischen zwei Silben neu justieren müssten, fügen wir beim Sprechen gern ein gleitendes Zeichen in die Fuge ein. Am bekanntesten ist das Fugen-s (Bahnhof-s-halle), von dem heute aber nicht die Rede sein soll.
Auch Fugenzeichen wie -[e]s-, -e-, -[e]n-, -er- usw. stehen zwischen den Hauptbestandteilen von Komposita: Hund-e-hütte, Rose-n-blatt oder Gött-er-speise. Ursprünglich mag es sich um eine syntaktische Bildung gehandelt haben: „Bundeskanzler“ aus dem „Kanzler des Bundes“. Inzwischen werden Fugenzeichen jedoch analog zu existierenden Mustern gebildet: „Speisekarte“ wie „Speisekammer“. Stößt „k-k“ in der Fuge aufeinander, wird ein -e- eingefügt: Getränk-e-karte. Also auch hier kein Plural!
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Kolumnen