Hamburg. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich einmal diese Kolumne schreiben würde. Seit meinen Jugendtagen war ich ein überzeugter Gegner der Kernenergie. Ich weiß um die Gefahren der Kernspaltung, ich kenne das Problem mit der Endlagerung radioaktiven Mülls. Ich habe oft gegen Atomkraft demonstriert – in Hannover, in Gorleben. Nun habe ich meine Meinung geändert. Im Angesicht der Klimakrise und der Zeitenwende können wir nicht weitermachen, als sei nichts passiert.
Atomkraftwerke: Architektur der Energiewende ist zusammengebrochen
Wir werden noch einige Jahre mit dem Atom leben müssen. Denn die Architektur der Energiewende ist zusammengebrochen. Bislang wollten wir die Grundlast durch Gaskraftwerke sichern – wenn kein Wind geht und die Sonne nicht scheint, benötigt eine Industrienation zuverlässige Energie. Die Ampel einigte sich im Koalitionsvertrag auf den„massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken“.
Damals war das richtig. Heute ist es falsch. Denn die Brücke Gas ist zum Teil weggebrochen. Und unser Notbehelf – Steinkohle, Braunkohle und Heizöl – mag eine Lösung für den Moment sein, sie tragen uns nicht ins nachfossile Zeitalter. Ihre Klimabilanz ist verheerend.
Erst hätte der Ausstieg aus der Kohle erfolgen müssen
Im Internet lässt sich tagesaktuell ablesen, welche Energie wir gerade verfeuern und wie groß der CO2-Fußabdruck ausfällt. Er ist nicht nur viel zu groß, er wird immer größer. Im September war die Bundesrepublik eines der schmutzigsten Länder Europas: 384 Gramm CO2 emittierte Deutschland pro kWh, für den vermeintlichen Klima-Primus eine verheerende Bilanz. Andere machen vor, wie es geht: Skandinavien kommt auf einen Ausstoß von weniger als 50 Gramm, das Atomland Frankreich liegt bei rund 100.
Die Karte zeigt, wie verrückt die deutsche Energiewende war: Wir hätten erst aus der Kohle und dann aus der Kernenergie aussteigen sollen. Und Dreckschleudern wie Wedel vor hocheffizienten Kraftwerke wie Moorburg stilllegen müssen. Wann gestehen wir es endlich ein? Wir haben fast alles falsch gemacht. Daraus lässt sich nur eins ableiten: Nun müssen wir alles richtig machen – und alte ideologische Zöpfe abschneiden. Natürlich kann man die alten Fahrensleute des Atomausstiegs verstehen, die sich um die Früchte ihres Anti-AKW-Kampfes betrogen fühlen.
Es die Zukunft des wichtigsten Industrielandes Europas
Aber auf sie darf das Land in dieser Notlage keine Rücksicht nehmen. Es geht hier nicht um individuelle und parteipolitische Befindlichkeiten, sondern um die Zukunft des wichtigsten Industrielandes Europas. Und das wird in den kommenden Jahren nicht weniger, sondern viel mehr Strom benötigen – mit der Wärmewende und der Verkehrswende steigt der Verbrauch: Nach den Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums von 2021 dürfte er von 595 TWh im Jahr 2018 auf 658 TWh im Jahr 2030 wachsen.
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Bislang sollten neue Gaskraftwerke diesen Mehrbedarf absichern. Und jetzt? Wir diskutieren die absurdesten Ideen: Sogar der Einsatz sogenannter Power-Barges wird geprüft, schwimmender Elektrizitätswerke, die wie in Somalia vor Anker gehen, um die Stromversorgung anzukurbeln. Am Abschalten des Atomkraftwerkes in Lingen halten wir (noch) störrisch fest.
Grüne aus Schweden sind bereits umgeschwengt
Dabei haben anderswo viele Ökoparteien ihren Kurs wegen des Klimas längst korrigiert, etwa in Schweden: Dort forderte ein Grünen-Politiker unlängst den Weiterbetrieb deutscher AKW und drohte: „Wenn Deutschland keine Verantwortung für seine Energiesicherheit übernimmt, werde ich unserer Regierung vorschlagen, dass wir das Ostsee-Kabel kappen.“
In Schweden hat Robert Habeck ohnehin ein neues Atomproblem: Seit der Verstaatlichung von Uniper ist die Bundesrepublik dort Anteilseigner der drei Kernkraftwerke Oskarshamn, Ringhals und Forsmark. Auf der Website des Unternehmens heißt es: „Schweden hat sich zum Ziel gesetzt, seinen Energiemix bis 2040 zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien zu gestalten. Wenn Schweden ... einige seiner Kernkraftwerke über das Jahr 2040 hinaus laufen lassen möchte, wird Uniper darauf vorbereitet sein.“
Die Skandinavier sind eben pragmatisch. Fun Fact zum Finale. Die Schweden beschlossen 1980, bis 2000 aus der Atomkraft auszusteigen. Das haben sie nicht geschafft. Aber ihr CO2-Ausstoß pro Kilowattstunde beträgt noch ein Zehntel des deutschen.
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