Hamburg. Eine Warnung vorab: Wir betreten nun vermintes Terrain. „So ein Schwachsinn!“, schrieben die Empörten etwa bei Facebook, und das waren noch die netteren Worte. Was komme wohl als Nächstes, fragten sie. Muss jetzt auch der Schwarzwald umbenannt werden? Der HVV hingegen hatte nicht einmal Kunden oder Belegschaft gefragt, sondern vorsorglich entschieden, den Begriff des „Schwarzfahrens“ auf den Index zu nehmen, weil er diskriminierend sein könne. Die Aufregung auf beiden Seiten ist erstaunlich. Und ein Teil der wirklichen Probleme.
Aus dem Vorgehen des HVV spricht dabei Hilflosigkeit. In Zeiten von „Wokeness“, also absoluter politischer Korrektheit, und Empörungswellen wurde man lieber selbst aktiv, bevor sich jemand an dem Begriff stört. Beschwerden, etwa von dunkelhäutigen Mitarbeitern, gab es dem Vernehmen nach keine. Das Wort Schwarzfahren war auch sprachhistorisch nie direkt auf Menschen mit dunkler Hautfarbe bezogen. Es wurde und wird täglich tausendfach gesagt, ohne dass dabei auch nur der Gedanke an eine bestimmte Gruppe Menschen aufkommt.
Befürchtung ist nicht komplett abwegig
Die Befürchtung, dass der Begriff diskriminierend aufgefasst werden könnte, ist trotzdem nicht komplett abwegig. Zumindest stimmt es, dass in unserem Sprachgebrauch die Farbe Schwarz eben häufig synonym für das Schlechte steht. Und was das gerade bei jungen Menschen mit dunkler Hautfarbe auslösen kann, ist real.
In einem berühmten Interview erzählte Muhammad Ali vor Jahrzehnten davon, wie er seine Mutter fragte, ob er überhaupt in den Himmel kommen könne, wo doch alle Engel weiß und blond seien. Nicht alles hat sich seitdem geändert. Und weiterhin darf sich niemand dazu aufschwingen, darüber zu urteilen, ob eine Gruppe von Menschen sich verletzt fühlen darf.
Hysterie ignoriert tatsächliches Unrecht
Der Diversität mit der Brechstange die Tür zu öffnen ist aber kein Ausweg. Zumal sich der tägliche Sprachgebrauch um Richtlinien von Unternehmen oder Behörden ohnehin kaum schert. Es hätte deshalb auch vor dem Schritt des HVV zuerst eine Debatte gebraucht, innerhalb des Unternehmens wie außerhalb. So ist der Schritt nun auch Futter für die Verirrten und Hassenden. Die ernsthaft glauben, wenn man nicht mehr „Schwarzfahren“ sagen dürfe, werde auch sonst bald alles verboten und Hamburg zu einem schrecklich lebensfeindlichen Ort mit lauter Gendersternen.
Diese Hysterie ist noch gefährlicher, weil sie in den Graubereich zu einem wirklichen Rassismus führen kann. Weil sie tatsächliches Unrecht ignoriert. Im Sport, der doch als Vorbild für die Gleichbehandlung gilt, ist dieses aktuell zu sehen: beim HSV-Profi Jan Gyamerah, den sie in der Schule schon „Neger“ nannten und der sich lange eine andere Hautfarbe wünschte. Auch bei drei jungen englischen Elfmeterschützen aus dem EM-Finale, die nur so lange von ihrer ganzen Nation akzeptiert wurden, bis sie wenige Sekunden lang nicht wie gewünscht funktionierten.
Ständige Sprachdebatten
Die ständigen Sprachdebatten mit dem Messer zwischen den Zähnen führen auch in Hamburg weg von den eigentlichen Aufgaben, vor denen die Gesellschaft steht. Ja, auch Sprache formt Realität – aber etwa Diskriminierung auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt ist schon Wirklichkeit, und diese kann schmerzhafter sein als eine vielleicht missverständliche Bezeichnung auf einem Plakat in der U-Bahn.
Es wird langsam Zeit für eine gelassenere Diskussion der Gesellschaft bei der Frage, wo es Nachholbedarf gibt und wann die „Wokeness“ zur Farce wird. Ein Schritt dorthin wäre, den Betroffenen zuerst zuzuhören, was sie überhaupt betroffen macht. Und alle Energie auch zuerst auf diese Probleme zu lenken.
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