„Urteile nie über einen Menschen, solange du nicht sieben Meilen in seinen Schuhen gelaufen bist.“ Dieses Sprichwort, das ursprünglich von den amerikanischen Ureinwohnern stammen soll, hat sich als Binsenweisheit in unzähligen Varianten verbreitet. Tatsächlich steckt darin aber eine Botschaft des Mitfühlens, die aktueller denn je ist.
Das zeigt das Beispiel der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Normalerweise interessiert das ostdeutsche Flächenland mit seinen 2,2 Millionen Einwohnern den Rest der Republik herzlich wenig. Weil die AfD aber kurz vor der Wahl in einer Umfrage vor der CDU landete, ist die Aufregung groß. Befeuert wird sie von Äußerungen des Ostbeauftragten Marco Wanderwitz, dass manche „diktatursozialisierte“ Ostdeutsche noch nicht in der Demokratie angekommen sind.
Prompt diskutieren wieder alle darüber, ob der Osten ein rechtsextremes Problem hat oder seine Bewohner nur frustriert und abgehängt sind und deshalb aus Protest die Populisten wählen. Es ist eine Diskussion, die fast vor jeder Landtagswahl in den ostdeutschen Bundesländern wiederkehrt und genauso oft danach wieder in Vergessenheit gerät.
Landtagswahl in Sachsen-Anhalt: Skepsis gegenüber der Demokratie
Umfragen zeigen, dass die Skepsis gegenüber der Demokratie als Staatsform in Ostdeutschland größer ist als in Westdeutschland. Man kann sich an diesen Zahlen festbeißen. Oder man kann fragen, was eigentlich dahintersteckt. Man könnte als Westdeutsche einmal überlegen, wie es sich anfühlt, wenn die Gesellschaft, in der man groß geworden ist, zusammenbricht. Wenn man sich an ein neues System gewöhnen muss, das einem ständig das Gefühl vermittelt, das „falsche“ Leben geführt zu haben.
Als Studentin habe ich Anfang der 90er-Jahre eine Zeit lang in einer ostdeutschen Redaktion gearbeitet. Ich erinnere mich an eine Veranstaltung mit der Schriftstellerin Daniela Dahn, in der sie gegen den Westen polemisierte. Was nütze die neue Reisefreiheit, wenn man doch zugleich im Osten das Recht auf Arbeit verloren habe? Ich erinnere mich an meine Verblüffung ob dieser Aussage. Darüber, dass man Reisefreiheit so gering schätzen kann, aber auch darüber, dass Arbeitslosigkeit nicht als unvermeidbares Phänomen des Systems gesehen wird. Das war mir als einer im Westen sozialisierten jungen Frau bis dahin noch nie in den Sinn gekommen.
Bei politischen Auseinandersetzungen geht es oft weniger um den Inhalt
Wer als Wessi im Osten lebt, wird dort noch eine andere Erfahrung machen: Oft unterscheidet sich die Frustration der Menschen in den ländlichen Gebieten nicht von jener im Westen der Republik. Jemand, der in einer industrieschwachen Gegend wohnt und stundenlang zu seinem Arbeitsplatz pendeln muss, wird kein Verständnis für die Forderung der Grünen haben, den Spritpreis um 16 Cent anzuheben. Und wer es trotz aller Bemühungen nicht schafft, sich den Lebenstraum vom kleinen Eigenheim zu finanzieren, kann nicht nachvollziehen, warum für andere das Streben nach mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache ein wichtiges Ziel ist.
Oft geht es bei politischen Auseinandersetzungen weniger um den Inhalt. Sondern um das Gefühl, vergessen, missverstanden und nicht wertgeschätzt zu sein. Womit wir wieder bei der Lebensweisheit sind. Warum den Pandemiesommer nicht nutzen, um einmal an jene Orte im eigenen Land zu fahren, die man am wenigsten versteht? Warum nicht dort die Schönheiten und die Geschichte entdecken und mit den Menschen ins Gespräch kommen? In den Schuhen der anderen ist man damit noch nicht gegangen. Aber man hat sie ein kleines Stück begleitet. Vielleicht würde das schon helfen, die Spaltung in Deutschland ein bisschen kleiner zu machen.
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