Die Deutschen wollen weniger arbeiten und mehr Rente bekommen. Das geht nicht gut

Schade, dass nicht mehr Deutsche die Volksschule im Sauerland besucht haben: Sie hat nicht nur große Politiker hervor-, sondern ihnen auch vieles beigebracht: „Weniger Kinder, später in den Beruf, früher raus, länger leben, länger Rente zahlen: Wenn man das nebeneinanderlegt, muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Das kann nicht gehen.” Mit diesem schlichten Satz brachte der einstige Arbeitsminister Franz Müntefering 2005 eine der mutigsten Reformen auf dem Weg – die Rente mit 67. Mutig deshalb, weil die Widerstände in Partei und Gesellschaft enorm waren: Zwei Drittel der Deutschen waren dagegen, doch das focht den großen Sozialdemokraten nicht an. Er setzte um, was nötig war.

Heute fehlt den Deutschen gleich zweierlei: Politiker mit münteferingschem Mut – und das Verständnis der Grundrechenarten. Die einzigen Zahlen, die Kanzlerin Angela Merkel (CDU), ihre mögliche Nachfolgerin Ursula von der Leyen (CDU) oder Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) offenbar interessieren, sind Umfragedaten. Handlungsmaxime dieser Großen Koalition ist nicht das Nötige, sondern das vermeintlich Mögliche. Erlaubt ist nur, was gefällt, nicht was schwer fällt. Berauscht vom flüchtigen Glück sprudelnder Steuereinnahmen haben die drei Politikerinnen tief in die Rentenkasse gegriffen: Die CDU hat ihre Klientel mit der Mütterrente erfreut, die SPD ihre Anhänger mit der Rente ab 63 beschenkt. Den Deutschen gefällt’s – fast drei Viertel begrüßen die teuren Rentenreformen. Wähler schätzen Zubilligungen mehr als Zumutungen, sie lieben das Heute und scheren sich wenig ums Morgen. Das alles ist menschlich, doch klug ist es nicht.

Der Erfolg der vergangenen Jahre hat das Land satt und selbstzufrieden gemacht. Profilierten sich Politiker und Funktionäre im vergangenen Jahrzehnt noch als Reformer, überbieten sie sich jetzt als Umverteiler. Das alles ist verständlich, doch verantwortungsbewusst ist es nicht. Denn damit nähren sie die Illusion eines Wirtschaftswunderlandes, in dem für ewig die Sonne scheint und Milch, Honig und Sozialleistungen fließen. Immer neue Umverteilungsideen werden diskutiert.

Nun schlägt ein Vorstand der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, die eigentlich stets besonnen und vernünftig agierte, die Rückkehr der Frühverrentung vor. Ab 60 solle man auf eine Drei- bis Viertagewoche wechseln können, ohne große Einbußen zu riskieren. Zahlen sollen die Arbeitgeber und die Rentenkasse. Das hatte gerade noch gefehlt.

Offenbar versteht keiner mehr Münteferings Satz: Die gesetzliche Rentenversicherung ist eine geniale Idee, die auf Solidität und Solidarität fußt. Leider droht beides verloren zu gehen. Aufgrund der demografischen Entwicklung sinkt die Zahl der Beitragszahler immer weiter – vor allem dann, wenn die Generation der Babyboomer in den Ruhestand geht. Diesen für die Sozialversicherung extrem herausfordernden Moment durch die Rente mit 63 oder Frühverrentungen noch früher heraufzubeschwören ist eine Tollheit. Und unsozial: Bei allem Respekt vor der Lebensleistung dieser Generation – die Kinder der 50er-Jahre sind besonders privilegiert. Den Jüngeren, aber auch heutigen Rentenbeziehern dafür die Rechnung zu präsentieren ist unverschämt. Und es schwächt ohne Not die deutsche Wirtschaft, die noch zur prächtigen Laune im Lande beiträgt: Deutschland droht ein massiver Fachkräftemangel – und in dessen Folge ein deutlicher Wachstumseinbruch. Um den Wohlstand zu sichern, wird man in Zukunft nicht weniger, sondern mehr, nicht kürzer, sondern länger arbeiten müssen.

Es wäre an der Zeit, dass Politiker und Funktionäre die Fakten und Zusammenhänge benennen, die man früher noch an Volksschulen lernte.