Mit seiner Rede zum Kriegsausbruch 1914 setzt Gauck ein Zeichen gegen Nationalismus 2014

Ein deutsches Staatsoberhaupt, das öffentlich über den Ersten Weltkrieg und seine Folgen sinniert, bewegt sich in einem politischen Minenfeld. Die vor allem in Großbritannien zuletzt erregt geführte Debatte über eine Allein- oder Teilschuld der Deutschen an dieser europäischen Urkatastrophe hat gezeigt, wie dünn die Heilhaut über den tiefen Wunden Europas noch immer ist.

Bundespräsident Joachim Gauck war gut beraten, in seiner Grundsatzrede anlässlich des Attentates von Sarajevo 1914 diese brisante Diskussion nicht aufzugreifen. Seine Rede galt zwar namentlich dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Doch in ihrer politischen Kernaussage war sie weit weniger rückblickend als vielmehr zukunftsweisend: als Aufforderung an die Europäer nämlich, die Trias aus Frieden, Demokratie und Menschenrechten, die der Europäischen Union zugrunde liegen, aktiv zu verteidigen.

Ganz entfernt klang darin Gaucks von der Linken in unerträglicher Weise verunglimpfte Position an, dass Deutschland diese Werte im äußersten Notfall auch militärisch verteidigen müsse. Nicht zufällig bemühte Gauck den Maler Franz Marc als Zeitzeugen, der 1916 bei Verdun fiel. Seine Erkenntnis, dass ein übersteigerter Nationalismus der „unsichtbare Feind“ der europäischen Völker sei, gilt bis heute. Gaucks Warnung vor allem an jene in den EU-Staaten, die das europäische Gemeinwesen wieder durch verstärkte Nationalstaaterei ersetzt sehen wollen, vollzieht sich vor dem dramatischen Hintergrund der Ukraine-Krise. Der skrupellose Bruch bilateraler und internationaler Abkommen durch Russland mit der Annexion fremden Territoriums, die Errichtung einer militärischen Drohkulisse sowie die vor Lügen strotzende, pathetisch-nationalistische Propagandaoffensive des Kreml stellen wohlbekannte Instrumente eigensüchtiger Großmachtpolitik dar, wie sie Europa längst überwunden glaubte. Mit Recht wirft Gauck dem russischen Autokraten Putin „altes Denken“ vor – und stellt die bange Frage, ob Europa nun in eine Politik von Gewalt und Konfrontation zurückgleite.

Im Juli 1914 war der Kontinent fest davon überzeugt, politisch und ökonomisch viel zu stark vernetzt zu sein, kulturell zu hochstehend und den Werten der Aufklärung viel zu fest verbunden, als dass es noch einmal einen umfassenden europäischen Krieg geben könnte. Nur einen Monat später, nach dem völligen Versagen von Politik und Diplomatie, wurde der Kontinent in eine Apokalypse des mechanisierten Tötens hineingezogen, wie sie die Menschheit selbst in Jahrtausenden ungezählter Kriege noch nicht erlebt hatte.

Das Europa des Jahres 2014 ist nicht mit dem von 1914 vergleichbar. Dennoch wäre es töricht und leichtsinnig, anzunehmen, ein Krieg sei damit unmöglich geworden. Wenige Flugstunden östlich von uns sterben Menschen in blutigen Kämpfen, deren Ursache 100 Jahre nach den Schüssen von Sarajevo letztlich wieder in übersteigertem Nationalismus und Großmachtstreben zu suchen sind. Noch immer gibt es auch hierzulande offenbar genügend Menschen, die einem „starken“ Mann an der Spitze des Staates, der sich einfach nimmt, was er haben will, mehr Sympathien entgegenbringen als einem komplexen demokratischen System, das viel Arbeit und Geduld erfordert.

Es hat Jahrhunderte, unendliches Leid und Abermillionen Tote gekostet, um ein friedliches, demokratisches, liberales und pluralistisches Europa schaffen zu können. Doch diese einzigartigen Errungenschaften, um die uns große Teile der Welt glühend beneiden, müssen – und das war im Grunde die zentrale Aussage der Gauck-Rede – verteidigt und jeden Tag aufs Neue erarbeitet werden.