Die Finanzminister entschulden sich im Schlaf, die Bürger zahlen. Der teure Preis Europas

Finanzminister sollte man sein. Für sie haben Schulden ihren Schrecken verloren, denn Verbindlichkeiten verschwinden wie von Geisterhand. Was klingt wie ein Märchen, ist seit einigen Monaten Wirklichkeit. Die jüngste Zinssenkung durch die Europäische Zentralbank schreibt ein weiteres Kapitel. Für Wolfgang Schäuble (CDU) und alle anderen Chefs der Finanzressorts ist das eine gute Nachricht, für Sparer hingegen eine Hiobsbotschaft. Sparbuchbesitzer, Inhaber von Lebensversicherungen und Bundesanleihen werden zur Kasse gebeten. Sie zahlen für die Entschuldung der Staaten. Ein kleiner Trost: Durch die historisch niedrige Inflationsrate schrumpfen die Vermögen noch sehr moderat. Die „Enteignung der Sparer“, die derzeit in der Öffentlichkeit diskutiert wird, klingt da etwas schrill.

Allerdings ist der Vertrauensverlust beträchtlich: Über Jahrzehnte predigte die Politik den Bundesbürgern, zu sparen und für das Alter vorzusorgen. Die Deutschen erfüllten diesen Wunsch und häuften bis Ende 2012 nach Zahlen der Deutschen Bundesbank fast fünf Billionen Euro an. Zieht man die Verschuldung der privaten Haushalte davon ab, bleibt noch immer ein Nettogeldvermögen von 3377 Milliarden Euro. Mit einer Erosion aber hatte kein Sparer gerechnet – wer sich auf die Hochrechnungen seiner Lebensversicherer und Vermögensberater verlassen hat, fühlt sich nun verlassen. Die bittere Lehre dieser Tage lautet: Sparen wird bestraft, die Spekulation belohnt.

Damit setzen Fluchtbewegungen ein, die das gesamte Finanzsystem gefährden: Die Immobilienmärkte gerade in den Großstädten laufen heiß, der DAX hat in dieser Woche erstmals die historische Marke von 10.000 Punkten durchbrochen. Dies ist fundamental kaum noch zu rechtfertigen, aber logisches Ergebnis des Anlagenotstands und der Flucht in Sachwerte. Wo Staatsanleihen nur noch Mini-Renditen abwerfen, rücken Aktien mit Dividendenrenditen von drei bis vier Prozent automatisch in den Fokus. Doch die derzeitige Gelassenheit an den Märkten wirkt trügerisch, sie könnte die Ruhe vor dem Sturm sein. Ein wenig erinnert die Gemütsruhe an 2007 – wenig später brach die Finanzkrise aus. Drolligerweise warnte die Bundesbank im Februar vor Preisblasen bei Immobilien und im Mai vor einem Überschwang bei Aktien und Anleihen, um am Donnerstag im EZB-Rat nun der neuerlichen Zinssenkung doch zuzustimmen.

Die Finanzminister werden aller kritischen Rhetorik zum Trotz den Schritt der Frankfurter Währungshüter begrüßen. Wenn das Wachstum über dem Zinssatz liegt – und das gilt inzwischen für fast alle Euro-Staaten –, entschulden sich die Staaten wie im Schlaf, auch wenn weiterhin die Zinszahlungen über neue Kredite finanziert werden. Für Politiker ist das die beste aller Welten. Die Niedrigzinsen versprechen anstrengungslose Haushaltskonsolidierungen. Darin liegt die größte Gefahr. Die Bereitschaft für notwendige Strukturreformen sinkt. Schlimmer noch: Spendierlaune kommt auf. Die unverantwortlichen Beschlüsse der Großen Koalition zur Rentenpolitik beispielsweise sind eine Tollheit, auf die man nur in vermeintlich guten Zeiten verfällt.

Noch aus einem anderen Grund gefällt die Zinssenkung den Europapolitikern – sie lindert die Schuldenkrise und hilft dem Süden mehr als dem Norden. Euro-Bonds, also gemeinschaftliche Anleihen aller Euro-Staaten, waren genauso wenig politisch durchsetzbar wie direkte Transfers. Die Niedrigzinsen wirken nun wie eine Strafsteuer auf Erspartes – die greift vor allem in den wohlhabenden Staaten das Nordens. Man kann sie also als Beitrag zur Linderung der europäischen Schuldenkrise werten. Das mag ein teurer Preis für Europa sein – aber die Alternativen, eine Zuspitzung der Schuldenkrise oder der Euro-Zerfall, kämen noch viel teurer.