Die SPD geht gestärkt in die Große Koalition. Deutschland aber wird geschwächt.

Am Sonnabendnachmittag war Ursula von der Leyen für einige Minuten eine wirkliche Superministerin. Zeitgleich vermeldeten verschiedene Medien, dass die 55-Jährige neue Gesundheitsministerin, neue Innenministerin beziehungsweise neue Verteidigungsministerin werden soll. Man kann davon ausgehen, dass die nicht gerade von übermäßigen Selbstzweifeln geplagte Politikerin sich jedes dieser Ämter zugetraut hätte – vermutlich sogar auch alle drei auf einmal. Zugleich aber offenbart das bis ins Operettenhafte reichende Postengeschacher der Union eine überraschende Planlosigkeit.

Ursula von der Leyen wäre als ausgebildete Ärztin eine kompetente Gesundheitsministerin gewesen – offenbar fürchtete sie aber die überschaubare Reputation dieses Amtes und die komplizierte Gemengelage zwischen Union und SPD. Auch als Innenministerin hätte man sich die Niedersächsin gut vorstellen können – als Sozialpolitikerin hat sie an vielen Tabus gerüttelt und neue Wege gewagt. All das hätte beispielsweise in der Integrationspolitik helfen können. Ursula von der Leyen aber zieht es auf die Hardthöhe. Offenbar erhofft sie sich als „Mutter der Kompanie“ neue Sympathiepunkte – doch das Verteidigungsressort ist vermintes Gelände: Zwei der drei letzten Minister mussten zurücktreten, die Euro-Hawk-Affäre machte auch dem dritten, Thomas de Maizière, das Regieren schwer. De Maizière wechselt nun ins Innenressort – und dürfte über diesen Umzug ziemlich glücklich sein.

Im unionsinternen Rennen um den ersten Kronprinzen nach Angela Merkel hat der Jurist damit seine Ausgangsposition gegenüber Ursula von der Leyen wieder verbessert. Vorerst aber verändert sich das Machtgefüge in der Union kaum: Wolfgang Schäuble wird als Finanzminister nach Angela Merkel das wichtigste Amt zur Ausgestaltung der Haushalts- und Europapolitik behalten.

Der größte Sieger der Großen Koalition indes ist SPD-Chef Sigmar Gabriel. Der einst als sprunghaft geschmähte Niedersachse hat die Niederlage vom 22. September in einen Sieg umgemünzt: Der Koalitionsvertrag trägt eine deutliche sozialdemokratische Handschrift, die Sozialdemokraten übernehmen Schlüsselressorts. Frank-Walter Steinmeier kehrt ins Auswärtige Amt zurück, Gabriel selbst wird Superminister für die Energiewende – das zentrale Projekt der Bundesregierung. Die Sozialpolitik liegt fast komplett in den Händen der SPD-Ministerinnen Manuela Schwesig und Andrea Nahles. Anders als in der letzten Großen Koalition werden sie dort nicht Einschnitte verkünden, sondern Wohltaten verteilen – zumindest bis zum nächsten Kassensturz. Und mit dem Schachzug der Mitgliederbefragung hat Gabriel viel gewagt und viel gewonnen. Durch die Abstimmung hat er Angela Merkel erst zu überraschend vielen Zugeständnissen genötigt und nun die große Mehrheit seiner zaudernden Partei hinter sich gebracht. Die Sozialdemokraten stehen so gut da wie lange nicht mehr.

Nur für das Land gilt das nicht. Ganz im Gegenteil: Gerhard Schröder hat seine tief greifenden und mutigen Reformen stets mit dem Satz gerechtfertigt, zuerst komme das Land, dann die Interessen der Partei. Dieser Satz, so steht zu befürchten, ist den Protagonisten dieser Großen Koalition völlig fremd. Die SPD demoliert mit der Abrissbirne das eigene Reformwerk der Agenda 2010, die Union leistet begeistert Abbruchhilfe. Angesichts gefüllter Sozialkassen und prächtiger Wirtschaftsdaten wähnt sich die Große Koalition offenbar im sozialpolitischen Wunderland. Der Wettlauf um die üppigsten Rentenerhöhungen ist schon ein Warmlaufen für die kommende Bundestagswahl – Union wie SPD wollen sich als Gönner geben. Seit den 1970er-Jahren hat keine Regierung den Sozialstaat derartig ausgebaut und den Standort so belastet. Die Große Koalition sollte den Moment genießen. So gemütlich wie jetzt wird es nicht sehr lange bleiben.