In Russland gärt es: Kreml-Kritiker wie Alexej Nawalny überraschen bei den Wahlen

Sein Imperium werde zerfallen, sobald er aufhöre, furchtbar zu sein, hat Frankreichs Kaiser Napoleon einmal erklärt. Russlands moderner Zar Wladimir Putin hat das Problem, furchtbar genug sein zu müssen, um seine Herrschaft zementieren zu können, aber wiederum nicht so furchtbar, um daheim wie international als lupenreiner Tyrann dazustehen. Seine „gelenkte Demokratie“ ist ein Kasatschok auf der Rasierklinge.

Die Massenproteste nach den von massiven Fälschungsvorwürfen überschatteten Präsidentschafts- und Kommunalwahlen im Frühjahr vergangenen Jahres – den größten in der jüngeren Geschichte des Landes – waren ein Warnsignal für den Kreml, dass man in der Zeit sozialer Medien nicht unbegrenzt mit schmutzigen Tricks und Repressionen werde arbeiten können.

Gut zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Kommunismus hat sich in Russland eine Mittelschicht etabliert. Sie will nicht wie willenlose Schafe durch die Wahllokale des Regimes getrieben werden, sondern fordert zunehmend politische Teilhabe.

Putin versucht die gärende Unruhe durch Placebo-Effekte zu besänftigen. So ließ er als Reaktion auf die Proteste die Direktwahlen der Gouverneure wieder zu, die er erst 2005 zur Stärkung seiner Zentralmacht abgeschafft hatte. Allerdings müssen die Kandidaten vorher von ihm abgesegnet werden.

Das Verfahren erinnert an Wahlen in der iranischen Despotie. Mit einem veritablen Taschenspielertrick wollte der Kreml nun dem eigenen Volk und der Welt vorführen, wie man Herrschaft auf „demokratischem“ Wege verteidigt.

Mit einiger Sorge muss Putin gesehen haben, wie der Bürgerrechtler und Blogger Alexej Nawalny als erklärter Gegner des Regimes und der horrenden Staatskorruption in Russland immer prominenter wurde, an die Spitze der Oppositionsbewegung aufstieg und gar „World Fellow“ der US-Eliteuniversität Yale wurde.

Nawalny, eine Nadel im Fleisch des „Systems Putin“, der etliche schwere Korruptionsfälle öffentlich machte, sollte zunächst mit den üblichen Mitteln ausgeschaltet werden, wie man sie auch im Fall des kremlkritischen Oligarchen Michail Chodorkowski angewendet hatte: eine zweifelhafte, vermutlich fingierte Anklage, gefolgt von Verurteilung und jahrelanger Lagerhaft. Sergej Udalzow, Führungsfigur der russischen Linken, steht unter Hausarrest; ihm drohen zehn Jahre Lagerhaft wegen Anstiftung öffentlicher Unruhen.

Auch Nawalny wurde vor Gericht gezerrt und erhielt fünf Jahre Lagerhaft, weil er angeblich irgendwo Holz unterschlagen haben sollte. Doch angesichts der Tatsache, dass Nawalny für das Amt des Bürgermeisters in Europas größter Stadt Moskau kandidierte, hielt Putin ein subtileres Verfahren für angebracht. Seine Strategie, Nawalny zwar antreten, ihn aber aufgrund einer diffamierenden Medienkampagne vernichtend verlieren zu lassen, ging aber nicht auf.

Und Putin steht nun vor der Frage, ob er einen Mann einkerkern soll, der vor den Augen der Welt mehr als ein Viertel der abgegebenen Stimmen in Moskau erlangte.

Im Westen sollte man sich davor hüten, Nawalny zur Lichtgestalt zu erheben. Zwar steht der Anwalt durchaus für mehr Demokratie und weniger Korruption, doch hat er durch unsägliche rassistische und nationalistische Sprüche auf sich aufmerksam gemacht. So bezeichnete er Kaukasier als „Kakerlaken“, deren Vernichtung man mit der Pistole betreiben solle. Unter seinen Anhängern sind viele Neonazis.

Der überraschend knappe Sieg des Putin-Kandidaten Sergej Sobjanin in Moskau und der Sieg des Oppositionellen Jewgeni Roisman in Russlands viertgrößter Stadt Jekaterinburg sind noch keine neue russische Revolution und keine existenzielle Bedrohung für Präsident Putin, der bis 2016 gewählt ist. Doch sie sind ein unübersehbares Anzeichen dafür, dass die politischen Strukturen in Russland zulasten Putins in Bewegung geraten ist.