Das Uefa-Finale Dortmund gegen Bayern verführt zu übertriebenen Gefühlen

22 Berufsfußballer entscheiden das europäische Champions-League-Finale von Wembley. Doch etwas anderes spielt mit, das einen ganzen Kontinent bewegt: Gipfelt in London an diesem Wochenende die deutsche Vorherrschaft in der Wirtschaft und in der Politik nun auch im Fußball? Die Stimmungslage in den Ländern der EU und der Fußball-Union (Uefa) schwankt von Bewunderung über Angst und Neid bis Hass. Keine dieser Gefühle passt in die Zeit, da sich die Menschen vom Nordkap bis nach Portugal um eine Wirtschaftskrise sorgen, aber in ihrer Freizeit nichts so sehr genießen wie den rollenden Ball.

Das alte Bonmot, dass es im Fußball nicht um Leben und Tod gehe, sondern um mehr, liegt bedrückend über diesem Fußballspiel von Borussia Dortmund gegen den FC Bayern München. Die politisch-moralische Aufladung wirkt gespenstisch.

Der italienische "Corriere della Sera" schreibt, das Match in Wembley gebe eine "Lektion von Ordnung und Talent", die alle europäischen Völker angehe. In Frankreich behauptet die Wirtschaftszeitung "Les Echos", der deutsche Erfolg im Fußball und anderswo liege am Pragmatismus. Die Briten, deren altehrwürdige BBC gerade herausfand, dass Deutschland das beliebteste Land der Welt ist, fragen sich auf den Titelseiten: "Warum können wir nicht mehr wie Deutschland sein?" Geht's eine Nummer kleiner?

Während in London die alten Nazi-Vergleiche abnehmen, legen sie in Griechenland an Popularität zu. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird als Projektionsfläche für eine angebliche diktatorische Führung durch die Euro-Krise missbraucht. Weder sie noch andere klar denkende Deutsche laufen mit stolzgeschwellter Brust durch Europa, über den Ballermann auf Mallorca oder den Campo de' Fiori in Rom und singen sich wirtschaftliche oder fußballerische Erfolge schön. Und der Fußball-Patriotismus ist so harmlos wie die Anhängerschaft zu einer internationalen Boy Group.

Lob von den Nachbarn ist immer angenehm. Doch weder unter den Staatschefs noch unter Trainern, Spielern, Fans geht es darum, den Zeigefinger und sich dabei über andere zu erheben. Die alten Klischees über die Deutschen hinken wie die Vergleiche, die allerorten zum Finale aus den Mottenkisten hervorgekramt werden. Das gilt umgekehrt auch für die Bilder, die manche Deutsche über Griechen, Italiener und Spanier im Kopf haben. Natürlich profitiert die deutsche Wirtschaft von der guten Ausbildung, von den Reformen des vergangenen Jahrzehnts. Vielleicht ist das sogar eine Blaupause für andere Länder. In guter Tradition sollten die Deutschen Ratschläge geben, wenn erbeten, aber keine Vorschriften machen. Auf EU-Ebene hat Berlin nur eine, wenn auch gewichtige Stimme im Chor der 27.

Wie war es denn nach der Weltmeisterschaft 1998, nach dem EM-Desaster 2004? Deutschland war der kranke Mann Fußball-Europas. Frankreichs Multikulti-Elf um Zinédine Zidane verzauberte und gewann Titel. Europameister 2004 wurden die Griechen mit Trainer Otto Rehhagel, ausgerechnet. Die Kicker-Reform, die Jürgen Klinsmann und Joachim Löw angeschoben haben, zeitigten Erfolge. Erst kapieren, dann kopieren — so ging's im Fußball nach dem Vorbild der Internate wie in Frankreich, der Technik- und Taktikschulung wie in Spanien und England.

Über den Rasen von London werden deutsche Nationalspieler mit Namen wie Boateng und Gündogan laufen, dazu ein Müller und Wanderarbeiter wie Martinez aus Spanien oder Blaszczykowski aus Polen. Anders als nationale Klischees und Vorurteile ist sportlicher Erfolg flüchtig. Im nächsten Finale werden vielleicht wieder Barcelona und Chelsea stehen.

Für Wembley, die Heimat des europäischen Fußballs, gilt am Sonnabend: Ja, die Teutonen kommen — ganz harmlos.