Hamburg. Es war ein sensationeller Abend. Nicht, weil Krystian Zimerman der Nimbus eines scharfkantigen Eremiten umweht – wenig Konzerte, keine Kompromisse, in allen großen Sälen der Welt als penibler Do-it-yourself-Klaviertechniker bekannt. Auch nicht, weil Zimerman, der großartige Unnahbare, für sein Debüt im Großen Saal der Elbphilharmonie ausschließlich Werke des Hamburgers Brahms angesetzt hatte. Teil dieser Sensation war, dass er neben den Balladen op. 10 auch die zweite und dritte Sonate spielte, ein Repertoire, das ihm bestens liegt und in seinem ohnehin schmalen CD-Katalog fehlt (bei Amazon wird für die angeblich von ihm aus Qualitätsgründen zurückgerufene DG-Einspielung von 1980 ein Mondpreis von 1660 Euro verlangt). Der größere, entscheidende Teil aber war: Zimerman selbst.
Verständlich ist es schon, dass diese Stücke im Schatten späterer Meisterwerke stehen. Doch gerade das scheint diesem Sinnsucher an ihnen zu gefallen, das nach vorn drängende Durchscheinen des Potenzials, das Suchen nach der Balance zwischen Ausdruck und Form. Die Balladen spielte er deswegen wie behutsam arrangierte Versuchsanordnungen: Wie viel Größe und wie viel Tiefe steckt in diesen kleinen Formen? Wo ist die Tür ins Weite? Wie sehr lässt sich Klang modulieren und abschattieren? Wie viel Tempo kann man herausnehmen, um das Mitdenken und Vorahnen dieser Musik wie gerade in diesem Moment erfunden wirken zu lassen? Hatte Schumann recht, als er den noch so jungen Brahms zum Genie hochschrieb?
Großartig, wie nuancenreich Zimerman mit Haupt- und Nebenstimmen in den Balladen umging. Auf dem eng begrenzten Raum seiner Tastatur zauberte er Dialoge zwischen Melodielinien und ihrer harmonischen Grundierung. Sfumato-Effekte vom Feinsten, die Zimermans Linke dort immer wieder verwirbelte. Bereits hier hörte man die Jahresringe in seinem Umgang mit Musik, die gelassen machende Reife, die Übersicht und das intellektuelle Vergnügen am eigenen Spiel auf diesem Niveau.
Zimermann gibt noch drei kurze Zugaben
In der zweiten Sonate legte Zimerman sich raffinierter ins Werk. Mit fast fiebrigem Rasen ging es in den Kopfsatz, im Andante nahm er sich viel Zeit und viel Gestaltungsraum fürs Aussingen ohne Worte, bevor das Finale den fantastisch fabulierenden Romantiker auf die nächste Probe stellte.
Schumanns Etikett der „verschleierten Sinfonien“ für Brahms‘ Klaviersonaten enthüllte Zimerman noch konsequnter und druckvoller in der dritten Sonate. Von Anfang an klang sie bei ihm wie der Bauplan einer Orchesterbesetzung. Während Zimerman zuvor als Gestaltungspianist gefordert war, bot diese epische Sonate die Möglichkeit, in größeren Dimensionen zu denken als im Rahmen eines einzelnen Flügels. Das Andante: ein lieblich weltvergessener Traum, das Scherzo wirbelte einen schwindlig, das Trauermarsch-Intermezzo: ein stockdunkles Loch, aus dem sich Zimerman mit Macht ins stolz auftrumpfende Finale herausarbeitete. Und dass er, begeistert bejubelt, frohgemut drei kurze Zugaben gab – umgerechnet fast ein halbes Sokolov-Pensum –, das lässt hoffen, dass es nicht bei der einen, speziellen Audienz in diesem speziellen Saal bleibt.
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