Berlin. Starkes, berührendes, aber auch verstörendes Drama übers Loslassenmüssen: „Mehr denn je“ mit einer wieder überragenden Vicky Krieps.

Der Tod ist ganz nah. Ihre Umwelt möchte es nicht wahrhaben, Hélène (Vicky Krieps) stellt sich dem. Sie zieht sich immer mehr zurück. Als ihr Mann Matthieu (Gaspard Ulliel) sie doch mal zu einem Abend mit Freunden überredet, hält sie deren Ausflüchte über die Zeit, wenn es ihr wieder gut geht, nicht aus. Ihr wird es nicht gutgehen, sie wird sterben, empört sie sich. Und schottet sich erst recht ab.

Eine große Liebe, die eine große Belastung aushalten muss

„Mehr denn je“ ist ein Sterbedrama. Die meisten dieser Filme, die längst ein eigenes Genre bilden, sind Plädoyers für Sterbehilfe. Und verfahren, so aufwühlend sie auch immer sind, meist nach derselben Dramaturgie: erst der Entschluss, dann der Widerstand der Angehörigen, die bürokratischen Hürden, und dann das tränenreiche Ende am Sterbebett.

Emily Atef geht in ihrem Film „Mehr denn je“ einen anderen Weg. Die Berliner Filmemacherin mit iranischen Wurzeln erzählt von einer großen Liebe, die unter dieser enormen Belastung leidet. Hélène ist schwerkrank. Die einzige Hilfe wäre eine Lungentransplantation, aber auch da sind die Chancen nur fifty-fifty. Matthieu klammert sich an die einen 50 Prozent und hofft, dass ihr Leben dann wieder wie früher wird. Hélène fürchtet sich vor den anderen 50 Prozent: Was, wenn das Spenderorgan abgestoßen wird und sie aus der Narkose nicht mehr erwacht?

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„Was tun, wenn man stirbt?“, gibt die Todkranke eines Tages im Internet als Suchanfrage ein. Und landet bei dem Blog eines ebenfalls Todkranken namens Mister (Bjørn Floberg), der seine letzten Tage in einem einfachen Blockhaus in Norwegen verbringt.

Diesen „Mister“ kontaktiert sie, er ist der Einzige, mit dem sie offen über ihre Ängste reden kann. Und schließlich will sie auch dahin. Nach Norwegen. Noch einmal auf eine große Reise. Aber auch wenn Matthieu erst dagegen ist und sie dann doch begleiten will: Diesen Weg will sie allein gehen. Und das führt zum nächsten Konflikt. Weil sie den Mann, der sie innig liebt, vor den Kopf stößt.

Zu sich selbst finden in absoluter Fremde

In ihrem letzten, vielfach preisgekrönten Romy-Schneider-Film „3 Tage in Quiberon“ ging es schon einmal um eine Frau, die ihr Leben selbst bestimmen will. Und radikal mit Erwartungen bricht, wie man sich an ihrer Stelle zu verhalten habe. Nur ging es da um einen Filmstar, der von seinem baldigen Tod nichts ahnen konnte.

„Mehr denn je“ ist dennoch artverwandt. Und wieder ein intensives Kammerspiel, dessen ganzes Konfliktpotenzial sich erst an einem Erholungsort entzündet. Nur ist es hier nicht die raue Küste der Bretagne, sondern ein stiller See in Norwegen. Natürlich reist Matthieu doch nach, um seine Frau zurückzuholen. Doch Hélène muss sich entscheiden: Will sie ihre letzten Tage für die ihr Nahestehenden dasein? Oder will sie sie für sich ganz allein erleben?

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Selbst die glücklichen Momente, wie hier bei einem Rockkonzert, können nur mit künstlicher Beatmungshilfe gelebt werden.
Selbst die glücklichen Momente, wie hier bei einem Rockkonzert, können nur mit künstlicher Beatmungshilfe gelebt werden. © Pandora

Der Film birgt eine große Zumutung. Weil der Egoismus einer Sterbenden auf den der Angehörigen trifft, die es ihr so angenehm wie möglich machen wollen und es doch nicht vermögen. Vicky Krieps, die gerade erst in „Corsage“ als reife Kaiserin Sisi brillierte und dort aus ihrer eigenen Historie verschwinden wollte, spielt das, ohne je Mitleid erheischen zu wollen. Manchmal hat man fast mehr Mitleid mit ihrem Mann als mit ihr, doch dann lernt man ihren Entschluss zu verstehen.

Der Film erschüttert doppelt durch den frühen Tod des männlichen Hauptdarstellers

„Mehr denn je“ ist, gerade weil er so zurückhaltend gespielt und inszeniert ist, ein starker, berührender und doch auch verstörender Film. Denn es geht ums Loslassenmüssen. Auf beiden Seiten, auch und gerade, wenn man liebt.

Unfreiwillig erschüttert der Film noch auch auf ganz andere Weise. Weil Gaspard Ulliel kurz nach den Dreharbeiten, im Januar 2022, mit nur 39 Jahren nach einem Skiunfall gestorben ist. „Mehr denn je“ ist sein letzter Film. Und sein tragisch frühes Ende scheint den Tenor des Films noch einmal dick zu unterstreichen. Der Tod ist ganz nah.

Drama F/D/LUX/NOR 2022, 122 min., von Emily Atef, mit Vicky Krieps, Gaspard Ulliel, Bjørn Floberg