Mit fulminantem Auftakt vorgelegt: Die Hofesh Shechter Company eröffnete die Kampnagel-Saison mit zwei explosiven Choreografien.

Hamburg. Die große Leere. Ein Gefühl des totalen Fremdseins im Raum der unbegrenzten Möglichkeiten. Am Schluss seiner Choreografie "The Art of Not Looking Back" fegt der Choreograf die Tänzer von der Bühne. Sie erstrahlt gefühlte mehrere Minuten lang in blendender Helle und gleicht einer Carte blanche, mit der jedes neue Spiel möglich wäre.

Zwar basiert das Tanzstück, das vom Publikum gefeiert die Kampnagelsaison eröffnete, auf einem persönlichen Trauma des in die Fremde geflohenen und in England lebenden israelischen Musikers und Choreografen Hofesh Shechter. Doch es beschreibt jenseits der Klage des Kindes, das von seiner Mutter zweijährig im Stich gelassen wurde, auf einer anderen Ebene das Lebensgefühl, die Verlorenheit und Überforderung des Menschen in den weiten Welten des World Wide Web.

"Es ist, als ob man einen Eimer mit einem Loch hätte, aus dem das Wasser rinnt", lässt sich der Choreograf aus dem Off vernehmen. "Er ist nie voll und immer leer." Er versteht die nicht ohne Pathos, plakative Bilder und Perkussiongewitter auskommende Szenencollage auch als eine Metapher für eine allgemeine instabile, emotional zerrissene Befindlichkeit und die Beschleunigung im Internet-Zeitalter.

Wiederholt nehmen die sechs fabelhaften Tänzerinnen im offenen Monitorkasten mit dem gerasterten Boden eine "leuchterarmige" Volkstanzformation oder eine klassische Ballettpose aus dem täglichen Training an der Stange ein. Als ob sie - in der Sprache des Tanzes - Halt suchten in der alten Technik, im Traditionellen. Doch sie werden "entwurzelt" und fortgerissen von den knallharten, oft nervenzerrenden Rhythmen der Soundcollage, verfallen in starres Stillstehen oder spastische Zuckungen. Sicherlich sind die abgehackten, abrupt beschleunigten oder gebrochenen Bewegungen auch ein Ausdruck für die Ohnmacht, den Schmerz und die Verzweiflung in der Erinnerung des Choreografen. Zurückblickend auf seine Kindheit schüttelt er seine Tänzerinnen anstelle der Mutter durch und setzt sie seinen Aggressionen aus. Als sie ihm sagte, er sei alles für sie, weiß er sicher, dass sie ihm nichts mehr bedeutet: "Ich verzeihe dir nicht."

Die Gefühle von Allein- und Ausgesetztsein, von Ohnmacht und Orientierungslosigkeit spiegelt Shechter auch in der ersten Choreografie des Abends "Uprising". Er hat sie für sieben Tänzer inszeniert und lässt sie ihre männlichen Rituale austragen, die von zärtlicher Annäherung abrupt in brutale Angriffe und Kämpfe umschlagen. Oft rennen sie im Kreis wie Amokläufer, die in den Nebelschwaden gegen eine unsichtbare Bedrohung ankämpfen. Gegen die Einsamkeit oder eben gegen die Leere. Der inneren Zerstörung entspricht in "Uprising" wie auch in "The Art of Not Looking Back" die Dekonstruktion der Bewegungsabläufe, die sich von weich über den Boden gleitenden Schwüngen in Raufen, Strampeln und Hip-Hop-Zappeln auflösen. Immerhin erheben sich die sieben aus dem Niedergedrücktsein, formieren sich aufrecht zu Gruppen und proben am Schluss gemeinsam den Aufstand.

Das ist auch als ein Sieg des mit sich im Widerstreit lebenden, aufgespaltenen Shechter-Ichs zu verstehen: Er hat zu seiner künstlerischen Identität und einem Weg gefunden. Denn er betont die Verklammerung der beiden Choreografien nicht nur durch ähnliche Figuren, Motive und den wiederholten Marsch der Tänzer zur Rampe, sondern auch indem er sie am Ende des Abends nochmals die Stücke im Schnelldurchlauf zurückspulen lässt. Hofesh Shechter eignet sich mit seinen Tanzexplosionen ideal für den Paukenschlag zum Auftakt eines Festivals oder der Spielzeit. "Uprising" war bereits 2008 auf Kampnagel zu sehen, stimmt jedoch mit der stärkeren Frauenchoreografie auf die Themen des Zukunftscamps der "Zeit"-Stiftung ein, bei dem "Ein Leben ohne Netz" wie auch "Vernetzte Phänomene - Bühne frei für die Wissenschaft" zur Debatte stehen.

Hofesh Shechter Company: "Uprising - The Art of Not Looking Back" 28./29.9., 20.00; "Das Zukunftslabor" 28.9., 12.00 bis 18.30; "Vernetzt # - Das Zukunftscamp" bis 30.9., Kampnagel, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de , www.vernetzterleben.de