Alejandro González Iñárritus „Birdman“ sticht Richard Linklaters „Boyhood“ aus. Wenders verliert gegen den vom NDR mitproduzierten Snowden-Film „Citizenfour“. Moore und Redmayne sind beste Schauspieler.

Er hat sich keine Illusionen gemacht. Wim Wenders war zwar schon zum dritten Mal für einen Oscar nominiert, aber „wir gewinnen sowieso nicht“, hat er von Anfang an bekundet. Diese Einstellung hat ihm in der Nacht zu Montag bei der 87. Oscar-Verleihung im Dolby Theatre in Los Angeles eine erneute Enttäuschung erspart. Denn der Oscar für den besten Dokumentarfilm ging nicht an sein Künstlerporträt „Das Salz der Erde“, sondern an den Edward-Snowden-Film „Citizenfour“ von Laura Poitras. Quasi an Nachbarn. Poitras ist zwar Amerikanerin, lebt aber in Berlin, ihr Werk wurde produziert von Dirk Wulitzky und Mathilde Bonnefoy, dem NDR und dem BR.

Dass die rund 6000 im Schnitt um die 60 Jahre alten Mitglieder der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences, die über die Oscars entscheiden, diesen Film ausgezeichnet haben, ist ein starkes Statement, gilt doch der Whistleblower Snowden in den USA immer noch weithin als ein „Verräter“. Poitras holte sich ihren Oscar selber ab, auch das war nicht selbstverständlich. Lebt sie doch in Berlin, weil ihr das Leben in ihrer Heimat wegen ihrer amerika-kritischen Filme schwer gemacht wurde. Sie sorgte für klare politische Töne, als sie sich bei Snowden und anderen Whistleblowern explizit bedankte und noch einmal betonte, dass die NSA-Machenschaften die Demokratie gefährdeten.

Studio Babelsberg hat sich, im Gegensatz zu Wim Wenders, schon ein paar Illusionen gemacht. Die Studiochefs Carl Woebcken und Christoph Fisser waren ebenfalls nach Hollywood gereist, um dort für „Grand Budapest Hotel“ mitzufiebern. Wes Andersons Komödie wurde komplett in Deutschland gedreht, und Babelsberg hat nicht nur die Kulissen gestellt, sondern den Film auch mitproduziert. Aber trotz der vielen Nominierungen waren es am Ende, wie so oft bei Komödien, dann doch nur Nebenpreise, die der Film einheimsen konnte. Und nicht ein einziges Mal fiel ein Dankeswort an das Studio – was ihm für sein internationales Renommee ganz gutgetan hätte. Dennoch bekräftigte Fisser tapfer, diese Preise seien „vor allem auch eine Auszeichnung für den Filmproduktionsstandort Deutschland“.

Auf weiten Strecken blieb diese Oscar-Verleihung überraschungsfrei. Vor allem die Schauspieler-Sparten schienen bei all den vielen vorangegangenen Filmpreisen der sogenannten „Award Saison“ abgesteckt: J.K. Simmons bester Nebendarsteller für „Whiplash“, Patricia Arquette beste Nebendarstellerin für „Boyhood“, Eddie Redmayne bester Schauspieler als an ALS leidendes Physik-Genie Stephen Hawking in „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ und Julianne Moore beste Schauspielerin als Alzheimer-Kranke in „Still Alice“. Alles verdient, aber absehbar.

Patricia Arquette forderte gleichen Lohn für Frauen. Meryl Streep feuerte sie an.

Spannend blieb lediglich das Duell zwischen „Boyhood“ und „Birdman“, Richard Linklaters in der Filmgeschichte einmaliges Projekt, ein über zwölf Jahre hinweg gedrehtes Porträt einer Jugend, und Alejandro González Iñárritus brillant-ätzende Satire über die Abgründe des Showbusiness und damit irgendwie auch über Hollywood. Bei den Golden Globes und ersten anderen Filmpreisen war „Boyhood“ klar an „Birdman“ vorbeigezogen, aber bei den Preisen der Produzenten-, Regie- und Schauspielervereinigungen hatte „Birdman“ zuletzt wieder Boden gewonnen. Nun, beim Oscar, hat sich die Globe-Lage geradezu verkehrt.

Es blieb bei dem einen Oscar für Patricia Arquette, ansonsten ging „Boyhood“ leer aus. Bei sechs Nominierungen eine arge Schlappe. Linklater musste einem fast leidtun. Immer wieder kam dafür Iñárritu auf die Bühne, für das beste Drehbuch, die beste Regie, am Ende auch für den besten Film. Eine vierte Auszeichnung gab es noch für die Filmmusik. Genauso viele Oscars also wie „Grand Budapest Hotel“, aber diesmal durch die Bank in den wichtigeren Sparten.

In anderen Jahren wären „Boyhood“ und „Birdman“ einsame Monolithen gewesen. Pech, dass sie nun in einem so starken Jahr aufeinanderprallten. Beide Produktionen aber stehen für das Gleiche: für unabhängig produzierte Filme, die nicht auf Mainstream zielen, sondern auf Experimente, die Neues wagen und dafür Risiken eingehen. Das ist das eigentliche Signal dieser Oscar-Nacht: dass Hollywood wieder zu sich findet. Und sich selber bei all den Sequels und Comicverfilmungen langweilt.

Neil Patrick Harris, der zum ersten Mal den Oscar moderierte, brillierte anfangs mit einem spektakulären Musical-Opening, bei dem Anna Kendrick und Jack Black mit ihm sangen. Später machte sich der „How I Met Your Mother“-Star nackig – wie Michael Keaton in „Birdman“. Aber ansonsten blieb seine Show zu glatt, zu nett. Das berühmte All-Star-Selfie, mit dem Ellen DeGeneres, die Moderatorin 2014, das Internet lahmgelegt hat, konnte er nicht toppen. Stattdessen riss er ein paar müde Gags, die klar nach hinten losgingen. Vor der Verleihung hatte es Vorwürfe gegeben, dass Hollywood noch immer weiß dominiert sei, weshalb er kokett „die weißesten (whitest)... äh... hellsten (brightest) Sterne von Hollywood“ begrüßte. Bei „Citizenfour“ witzelte er, dass Edward Snowden „for some treason“ nicht dabei sein könne. Der Auftritt in Unterwäsche war da fast überflüssig. Auch im übertragenen Sinne ließ Harris die Hose runter.

Dennoch gab es ein paar kämpferische Momente. Nicht von den Veranstaltern, aber von den Gewinnern. Nicht nur im Fall von Snowden. Patricia Arquette widmete ihren Preis allen Frauen, die Kinder auf die Welt gebracht haben, um dann kämpferisch für Frauen gleichen Lohn und gleiches Recht einzuklagen. Meryl Streep feuerte sie dabei an. Graham Moore, Drehbuchautor von „The Imitation Game“, bekannte, dass er mit 16 Selbstmord begehen wollte, und forderte alle auf, die sich „weird“ und anders fühlen als die anderen, nicht zu verzweifeln, sondern eben darauf stolz zu sein.

Und die Afroamerikaner John Legend und Lonnie Lynn, die für ihren Song im Martin-Luther-King-Film „Selma“ ausgezeichnet wurden, erinnerten an die Ungleichheit, die in den vergangenen Monaten schwarze Bürger zu Protestmärschen auf die Straße gebracht hatte. Hier gab es Standing Ovations. Schon zuvor war aufgefallen, wie viele Präsentatoren afro-amerikanisch waren. Als wollte die Academy dezidiert auf die Rassismusvorwürfe reagieren. Zuletzt brach Iñárritu eine Lanze für mexikanische Einwanderer und widmete seinen Oscar allen Mexikanern.

Ja, die Filmbranche im Dolby Theatre gab sich als eine große, liberale Familie, die demonstrativ alle umarmt: die Andersartigen, die Schwarzen, die Ausgestoßenen. So glatt die Show konzipiert war, ist das doch ein schönes Zeichen. Gleichzeitig demonstrierte die Academy mit penetranter Schleichwerbung aber auch, wie käuflich sie ist: Es gab nicht nur Gold-Oscars, sondern auch – „Lego – The Movie“ war ja ebenfalls nominiert – Oscars aus Lego.

Das Nachsehen hatte in diesem Jahr das deutsche Fernsehpublikum. Gleich zu Beginn fielen bei ProSieben für sieben unendlich lange Minuten Bild und Ton aus. Den ersten Oscar an J.K. Simmons konnte man gar nicht miterleben, danach ging es einfach weiter – ohne Erklärung, was passiert war.