Heiko Raulin spielt Koltès' Monolog “Die Nacht kurz vor den Wäldern“ in der Garage des Thalia Gaußstraße als packenden Alleingang.

Hamburg. Eine Stimme ist zu hören. Dann bekommt der Schatten ein Gesicht. Der Mann tritt aus dem Dunkel in fahlen Lichtschein. Eine Neonröhre markiert blinkende Leuchtreklame, vages Brummen den fernen Verkehr. Doch keine Minute lässt Heiko Raulin im Monolog "Die Nacht kurz vor den Wäldern" Zweifel, dass er einen Kunstakt nachvollzieht. Er flaniert sozusagen im Straßenbild entlang der Linien des Textes von Bernard-Marie Koltès, stilisiert ihn zu einem körperlichen und verbalen Balanceakt zwischen den beiden Pfeilern der Garage im Thalia Gaußstraße. Er gleicht einem Seiltänzer auf dem Bordstein in einer dunklen Straßenecke, der schon mal vornüber in die Gosse fällt, sich aber aufrappelt und weiterläuft: ein Unbehauster, ein Fremder in seiner Haut und der Welt. Umso schärfer ist sein Blick: "Wir alle sind mehr oder weniger Fremde."

Raulin, der präzise ab- und eingesetzt mit Haltungen, Tonlagen und tänzerischen Bewegungen spielt, probiert auch kurz die Perspektive des Autors einzunehmen: auf der Suche nach einem (amourösen) Abenteuer oder Geschichten in der urbanen Wüste. Mit einem Tonband zeichnet er Beobachtungen, Erinnerungen, Gedanken auf.

Vor allem redet der namenlose Mann, schick gekleidet mit Brille und Schlips, zu einem unsichtbaren Mann, den er als Kameraden anspricht und mehr oder weniger anmacht auf der Suche nach einem Zimmer für die Nacht. "Es kostet dich auch nichts." Ihm - und auch manchmal direkt den Zuschauern - erzählt der Spaziergänger in der Nacht von einem Leben zwischen den Fronten, auf der Grenze zwischen der Wiese und dem Wald, aus dessen Schatten herauszutreten gefährlich sein kann. Er berichtet auch von einem Raubüberfall durch zwei junge Männer und von seiner "Idee einer internationalen Gewerkschaft". Denn je mehr man sich in den Allerwertesten treten lasse, desto fremder werde man sich. Auch in der Liebe scheint sich der Stromer im Zwielicht nicht festlegen zu wollen, fühlt sich mal zu Frauen, mal zu Männern hingezogen.

Heiko Raulin zeichnet in der szenischen Einrichtung des jungen Regisseurs Matthias Jochmann, Jahrgang 1987, das aktuelle Bild des flexiblen, äußerlich smarten, doch in seiner Existenz stets gefährdeten Global Player und bleibt auch als Performer im "Zwischenraum". Schrittweise tastet er sich in die Figur, um sich dann wieder auf sich zurückzuziehen. Indem er zu ihrer Einsamkeit und Verzweiflung Distanz wahrt, verleiht er ihr eine unberechenbare Kraft.

"Die Nacht kurz vor den Wäldern" wieder am 6.11., 19.00, Garage, Thalia in der Gaußstraße, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de