In “Der Fall Jakob von Metzler“ legt der Schauspieler Robert Atzorn als Ermittler Daschner die Fernsehleistung des Jahres vor

So kann man sich irren. Kritiker waren bislang der Meinung, der Schauspieler Robert Atzorn erledige einen soliden Job - sei es als einsilbiger "Tatort"-Kommissar in Hamburg oder als polternder Bürgermeister in Dieter Wedels "Affäre Semmeling". Gut, aber nicht auffällig gut. Zuschauer denken, wenn der Name Robert Atzorn fällt, an den fidelen Lehrer Doktor Specht, der in den 90ern zur Schule radelte und für das ZDF Marktanteile von bis zu 50 Prozent einfuhr. All das ist nun vergessen. Wer Atzorn am Montagabend als Frankfurter Polizei-Vizepräsident Wolfgang Daschner in dem bewegenden Drama "Der Fall Jakob von Metzler" sieht, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Man muss nicht gleich den Christoph-Waltz-Vergleich bemühen, um zu erkennen, dass hier jemand die wohl staunenswerteste Leistung in diesem Fernsehjahr vorlegt, der zuvor etwas aus dem Blickfeld geraten war. Das Comeback eines Schauspielveteranen.

Atzorn, 67, spielt mit anrührender Ernsthaftigkeit. Mühelos wird er eins mit der angespannten Verzweiflung dieses Mannes. Die Rolle des Ermittlers, der dem Kindesentführer Magnus Gäfgen Gewalt androht, als dieser auch nach Tagen den Aufenthaltsort des Kindes nicht verraten will, und der für diese Tat schließlich verurteilt wird, duldet keine interpretatorischen Muskelspielchen, kein Hauen auf die Performance-Pauke. Bei Daschner musste jemand ran, der die Konzentration eines Leistungssportlers paart mit einem Gespür für emotionale Nuancen. "Wir werden alles tun, um das Leben Ihres Sohnes zu retten, alles", verspricht Daschner den Eltern bei seinem ersten Besuch. Kein Gramm Pathos beschwert den Satz, Atzorn zieht die Augenbrauen nicht hoch, ballt die Hände nicht zu Fäusten. Er spricht, als würde er an der Wursttheke gemischtes Hack bestellen - und schafft es doch, dass Gänsehaut über den Zuschauerrücken krabbelt.

Interviews machen dem in Hamburg aufgewachsenen Schauspieler ungefähr so viel Spaß wie eine Magenspiegelung. Ein lautes Aufseufzen unterdrückt er beim Betreten des Cafés deshalb, weil er von der gebügelten Freizeitkleidung bis zum jovialen Plauderton Wert legt auf tadellose Manieren. Wäre da nicht dieser Film, den er als selten gelungen empfindet, und die Figur Daschners, der er so dringend gerecht zu werden versucht hat - Atzorn würde auf dem Seglerschuhabsatz kehrtmachen. Der Film also: "Der Fall Jakob von Metzler". Die Entführung des elfjährigen Bankierssohn, die 2002 ein ganzes Land bewegte, Juristen entzweite und dem Stammtischpublikum Futter zum Fraß vorwarf, lässt auch zehn Jahre später in der filmischen Aufarbeitung das Publikum die Augen nicht eine Sekunde vom Bildschirm abwenden.

Nicht aus dem Blickwinkel der Bankiersfamilie erzählt der Film von Regisseur Stephan Wagner und Autor Jochen Bitzer seine Geschichte, sondern aus der Perspektive von Daschner und seinem Team. Dass der Film kein moraltriefendes Debattenstück um Folter und Menschenwürde geworden ist (beides aber verhandelt), liegt auch an Atzorn, der Daschners Dilemma ohne Umwege spürbar macht. Um das Leben des Kindes zu retten, geht er, als er dem Entführer Schmerzen androht, viel zu weit. Und doch ist er bis auf den Grund seines Herzens überzeugt, das Richtige zu tun. "Wenn es Notwehr gibt", sagt Daschner, als nur noch ein Restfunken Hoffnung auf ein gutes Ende besteht, "gibt es dann nicht auch Nothilfe?" "Eine sauschwere Rolle" nennt es Atzorn. "Ich war fertig danach. Ich konnte sie auch abends nicht einfach abschütteln, das hatte ich in dieser Form noch nie."

Was bei einer stattlichen Filmliste von rund 100 Rollen etwas heißen mag. Atzorn stand unter klingenden Titeln wie "Herzen im Sturm" und "Afrika, mon amour" herum, spielte Trinker, Fremdgeher und Kapitäne. Er sagte Wolfgang Petersen für den Welterfolg "Das Boot" ab, weil familiäre Gründe dagegensprachen, und drehte mit Ingmar Bergmann im Jahr 1980 allerbeste Filmkunst: "Aus dem Leben der Marionetten". "Wenn ich diese Listen sehe, denke ich: 'So viel Text habe ich schon auswendig gelernt? Ist ja grauenvoll", sagt Atzorn. Die Augen funkeln belustigt, als habe er gerade einen fiesen Schulhofstreich ausgeheckt. Der Mann hat Humor, gepaart mit Selbstironie.

Im Film sind seine Mundwinkel verkniffen, die Augen triefen vor Müdigkeit. Der Vize-Polizeipräsident scheint in wenigen Tagen um Jahre gealtert. Zum Zeitpunkt, als Jakob bereits tot ist, die ahnungslosen Ermittler jedoch auf ein paar wenige Stunden hoffen, den Jungen zu retten, sitzt Daschner im Mantel zwischen der Bügelwäsche auf dem Sofa und bellt seinem Assistenten die folgenschwere Anweisung in den Telefonhörer: Foltern, wenn nichts anderes mehr hilft. Er wird nicht zusehen, wie ein Kind stirbt. Wenn es ein Bild gibt für jemanden, der ganz allein eine zentnerschwere Entscheidung trifft, hier ist es. Jeden noch so kleinen Part hätte er angenommen, um bei "Der Fall Jakob von Metzler" dabei zu sein, sagt Robert Atzorn. Es ist ein großes Glück für das deutsche Fernsehen, dass er nun die Hauptrolle spielt.

"Der Fall Jakob von Metzler" Montag, 20.15 Uhr, ZDF