Die Lebenserwartung steigt. Mit ihr verändert sich unsere Gesellschaft, es entstehen bisher unbekannte Probleme. Die Filmbranche reagiert.

Eines Abends beim Abwasch stellt Fiona die Pfanne in den Kühlschrank. Ihr Mann Grant nimmt die Pfanne heimlich wieder raus. Beim Essen mit Freunden weiß Fiona nicht mehr, was sie mit der Weinflasche wollte. Seit 44 Jahren sind sie verheiratet. Aber sie spüren, dass sich etwas verändert. Fiona driftet in ihre eigene Welt ab: "Ich habe das Gefühl zu verschwinden."

Sarah Polleys Film "An ihrer Seite" (2006) heißt im Original "Away From Her", fort von ihr, also genau das Gegenteil. Es ist die Geschichte einer Liebe und einer Trennung: Fiona wird dement. Sie ist mit 64 Jahren eigentlich zu jung, sagt sich ihr verzweifelter Mann. Aber das ändert nichts daran: Ihr gemeinsames Leben geht zu Ende.

Filme wie "An ihrer Seite", Richard Eyres "Iris" (2001), Phyllida Lloyds "Die Eiserne Lady" (2011) und jetzt Michael Hanekes "Liebe" handeln nicht von Zukunftsszenarien, sondern von der Gegenwart. Immer mehr Menschen erleben nicht nur den "goldenen Herbst", sondern auch den rauen Winter des Lebens, werden zum Pflegefall oder erkranken an Demenz und ihrer häufigsten Form: Alzheimer.

Unter den 65- bis 69-Jährigen sind derzeit erst 1,2 Prozent von Demenz betroffen, unter den 75- bis 79-Jährigen sechs Prozent, unter den 85- bis 89-Jährigen knapp 24 und unter den über 90-Jährigen 34,6 Prozent. In Deutschland gibt es 1,3 Millionen Demenzkranke, 2050 werden es nach Schätzungen doppelt so viele sein. Zählt man zu jedem Erkrankten nur zwei Angehörige, sind bereits 3,3 Millionen Menschen davon betroffen, dass mehr Betreuung und Pflegeleistungen nötig sind, dass Wohnungen aufgegeben werden müssen, Haushalte aufgelöst, Pflegeplätze gesucht werden müssen. Diese Realität, die Konsequenzen des gestiegenen Lebensalters und des demografischen Wandels, sind im Mainstream-Kino angekommen.

Es erscheint paradox: Die gefeierten Fortschritte in der Medizin, die uns längere Lebenszeit ermöglichen, haben eine dunkle Seite. Je älter wir werden, desto größer ist das Demenz-Risiko. Jeder Fall verläuft anders, sagen Mediziner. Aber wenn die Demenz beginnt, sind Ärzte meist noch gar nicht im Spiel. Die Betroffenen erkennen, dass sich ihre engsten und oft längsten Beziehungen verändern, in einer Weise, auf die niemand vorbereitet ist. Die psychischen Veränderungen vollziehen sich leise, irritierend. Warum hat Mutter, die immer so sparsam war, kein Verhältnis mehr zum Geld?

Warum kann Vater, der immer "FAZ" und "Spiegel" gelesen hat, keinen Satz mehr begreifen? Warum erreiche ich meinen Mann/meine Frau nicht mehr? Was bedeuten diese Stimmungsschwankungen? Mit wem kann man darüber reden, die Sorgen teilen? Und Monate später: Was muss ich alles für ihn oder sie entscheiden? Und wieder später: Kann ich ihn oder sie noch allein lassen? Können wir noch zusammen bleiben?

Kein Wunder, dass "Altern" ein Konfliktthema ist, mit dem sich die Unterhaltungsbranche lange schwertat. Komödien über Alte - na gut, die gab es seit Bernhard Sinkels "Lina Braake" von 1975 immer wieder. Damals ging es noch um das Problem "Abschieben ins Altersheim", um die Fieslinge in der "Generation Erben" und darum, dass die Lebenskompetenzen alter Menschen unterschätzt würden.

Das Remake "Dinosaurier - Gegen uns seht ihr alt aus" von Leander Haußmann 2009 bot eine Riege prominenter Schauspieler auf mit Ezard Haußmann, Eva-Maria Hagen, Walter Giller, Nadja Tiller (und als Erbschleicher Daniel Brühl), von denen zwei - Haußmann und Giller - inzwischen verstorben sind. Auf Popularität setzte auch die britische Komödie "Best Exotic Marigold Hotel" (2011) über ein Hotel im indischen Jaipur, in dem eine Gruppe betagter Briten kostengünstig ihren Lebensabend verbringt, sich mit Lebenslügen und Altersmarotten auseinandersetzt und unverhofft feststellt, wie sehr Alte noch gebraucht werden. In den Hauptrollen glänzten britische Stars wie Maggie Smith (heute 77), Bill Nighy, 62, und Judi Dench, 77.

Das Problem, wie sich die Sozialkassen auf die gealterte Gesellschaft einstellen, steckt im Film noch in den Kinderschuhen. 2007 bearbeitete Regisseur Jörg Lühmann das Thema in dem Fernseh-Thriller "2030 - Aufstand der Alten", in dem das "freiwillige Frühableben" der Alten als sozialpolitische Option durchgespielt wird.

Die Realität geht tiefer unter die Haut. Als Tilmann Jens 2009 sein Buch "Demenz" über das Schicksal seines alzheimerkranken Vaters veröffentlichte, warfen ihm Kritiker vor, er begrabe den noch lebenden Walter Jens. Auch auf den Spielfilm "Die Eiserne Lady" über die demenzkranke Margaret Thatcher gab es 2011 ähnliche Reaktionen. Darf man so offen schreiben, erzählen, filmen?

Das Publikum sieht das anders. Bücher und Filme finden millionenfaches Interesse, weil sie eben nicht idealisieren. Wenn das Kino sich auf die realen Emotionen einlassen will, muss es auch beängstigende, lebensverändernde Wandlungen ins Bild setzen. So wie in dem Spielfilm "Iris", der den Verfall der angloamerikanischen Schriftstellerin Iris Mudoch (1919-1999) nachzeichnet, die mit 74 Jahren an Alzheimer erkrankte, und auf dem Buch ihres Ehemanns John Bayley basiert. Mit schonungsloser Offenheit beschreibt der Film beides: Iris Murdochs Angst vor dem Vergessen und Bayleys zuerst krampfhafte Verweigerung, ihren Zustand ernst zu nehmen, das Unabänderliche zu akzeptieren.

Die gefeierte Autorin weiß plötzlich nicht mehr, wie man einfache Wörter schreibt. Ihr Mann, von ihren lichten Momenten verwirrt, klammert sich an die Frau, die seine Stütze und Schrittmacherin war. Alzheimer legt alles offen, Stärken und Schwächen einer Beziehung, die versteckten Seiten. Judi Dench erhielt für ihre einfühlsame, mutige Darstellung einen Golden Globe, Jim Broadbent als John zusätzlich sogar einen Oscar.

Der geistige oder körperliche Abbau eines Menschen konfrontiert das Umfeld unbarmherzig mit ungeliebten Wahrheiten, mit eigenen Grenzen. Vater, Mutter, Partner können nicht mehr die Rolle spielen, die sie hatten. Ist er oder sie deshalb fremd? Wie viel Kontrolle muss und darf sein? Was wird aus mir?, fragt sich der "verlassene" Partner, der sich um den Halt seines eigenen Lebensabends gebracht sieht.

Die erwachsenen Kinder finden sich in der "Sandwich-Generation" gefangen: Während Mittfünfziger ihren Kindern noch helfen, ins Leben zu finden, sollen sie ihre Eltern beim Weg aus dem Leben stützen. Indem sie deren Verlust an körperlicher Kraft, geistiger Umsicht und Vitalität mitansehen, sehen sie sich selbst - in 30 Jahren.

In Michael Hanekes "Liebe" geht es nicht um Alzheimer, sondern um eine Lähmung und die Wandlung von Liebe in Hingabe. Um die Grenzen, an die der gesündere Partner stößt, um die Einsamkeit, die er verkraften muss.

Alte Schauspieler sind für solche Rollen gefragt. Nicht nur Jean-Louis Trintignant, Robert Redford, Götz George, Hannelore Hoger oder Iris Berben. "Altern" wird eine große, vielschichtige Qualifikation. Für Schauspieler - und im realen Leben.