Das Kammerspiel für zwei grandiose Schauspieler geht an die Nieren. Dem Regisseur Michael Haneke ist ein Kunstwerk gelungen.

Genau so ist es, und genau so ist es nie. Mehr kann man nicht verlangen von einem Kunstwerk, das sich um größtmögliche Wahrhaftigkeit bemüht und zugleich nicht vergessen machen will, dass es sich einer Erfindung verdankt, der Fantasie eines einzelnen Menschen. Michael Haneke, für seine subtile Schonungslosigkeit gerühmter Präzisionsfanatiker des europäischen Kinos ("Funny Games", "Caché", "Das weiße Band"), hat mit "Liebe" einen Film gedreht, der beides ist: erschütternd in der brutal realistischen Abbildung dessen, wie uns körperliche Versehrtheit von allem entfremden kann, was wir waren. Und faszinierend in der künstlerischen Eigengesetzlichkeit und der eigenen Moral, mit der sich das Unausweichliche beim alten Ehepaar Georges und Anne vollzieht.

"Liebe" ist ein Kammerspiel in einer Wohnung. Sie liegt wohl in Paris, die beiden grandiosen Hauptdarsteller Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant sprechen Französisch. Doch die Außenwelt dringt nur spärlich ins würdevoll verwohnte Interieur. Der Lack blättert von den Fensterrahmen, die Möbel sind alt, die Haut der Zimmer wirft so viele Falten wie die ihrer beiden Bewohner. Die Wohnung hat Haneke exakt der seiner Eltern nachgebildet, Auslöser für die Geschichte war der Freitod seiner 93-jährigen Großtante, die ihn einst aufzog.

Es ist eine durch und durch bildungs- und kulturbürgerliche Welt, die da so leise und unerbittlich in Scherben fällt. Anne war Klavierprofessorin, der Flügel steht im Wohnzimmer. Einmal, noch ist sie nur halbseitig gelähmt und sitzt im Rollstuhl, kommt ein inzwischen erfolgreicher Schüler zu Besuch. Er spielt Beethoven für sie, bestürzt über ihren Zustand, den sie zu bagatellisieren versucht, dankbar für das, was sie ihm war und immer bleiben wird. Seine neue CD zu hören, die er den beiden kurz darauf schickt, kann Anne schon nicht mehr ertragen. Da es sich um einen Film von Michael Haneke handelt, spielt ein echter und auch in Wirklichkeit erfolgreicher Pianist die kleine Rolle: Alexandre Tharaud.

An Geld mangelt es in diesem Haushalt nicht. Ein freundliches Concierge-Ehepaar geht dem alten Herrn mit Besorgungen zur Hand. Georges bezahlt erst eine Pflegerin, dann, als Annes Zustand immer schlimmer wird, probiert er es mit einer zweiten. Doch der fehlt, was dem Film seinen Titel gibt, was Georges nun Augenblick für Augenblick in konkrete Handlung übersetzen muss und was Trintignant diesen alten Mann mit einer Selbstverständlichkeit verströmen lässt, dass einem das Herz zum Wundwerden aufgeht: Liebe. Anne nimmt ihrem Mann das Versprechen ab, dass sie nie wieder ins Krankenhaus muss und nie in ein Heim. So übernimmt Georges, zunehmend selbst gebrechlich werdend, nahezu allein die Pflege seiner Frau. Bis zum Tod.

"Liebe" sei kein Themenfilm über Pflege im Alter, sagt Haneke. Tatsächlich sprengt das Werk durch seine enorme Konzentration und durch die sanfte, unbeirrbare Radikalität seiner männlichen Hauptfigur das Genre des Seniorenfilms, das in jüngster Zeit vermehrt bedient wird. Eher kommen einem Parallelen aus der Literatur in den Sinn - Johanna Adorjans Roman "Eine exklusive Liebe" oder Arno Geigers Buch "Der alte König in seinem Exil".

Doch die nächste Generation, die sich bei Geiger immerhin noch behutsam des wegdämmernden Lebens ihrer Eltern versichert, kommt bei Haneke nicht gut weg. Isabelle Huppert spielt die nervöse, vom eigenen emotionalen Chaos-Leben überforderte und sporadisch ins Dasein der Eltern hineinplatzende Tochter, die den pflegenden alten Vater am liebsten entmachten und die Mutter ins Heim geben möchte, wo man ihr "professionell" begegnen werde. Dass mit Annes realem und Georges' sehr elliptisch erzähltem Tod auch eine in ihrer Unvollkommenheit zutiefst menschliche Auffassung von Liebe überhaupt im Sterben begriffen sein könnte: Das ist vielleicht die schmerzhafteste Empfindung, mit der man nach diesem Film das Kino verlässt.

Bewertung: überragend

"Liebe" F/D/Österr. 2012, 126 Min., ab 12 J., R: Michael Haneke, D: Jean-Louis Trintignant, Emmanuelle Riva, täglich im Abaton (auch OmU), Holi, Koralle, Passage, Zeise; www.liebe.x-verleih.de