Die Wettbewerbsfilme von Michael Haneke, Ulrich Seidl und Thomas Vinterberg gehören zu Höhepunkten des Filmfestivals in Cannes.

Cannes. Wenn der Österreicher Ulrich Seidl einen Film "Paradies: Liebe" benennt, kann man getrost erwarten, dass "Hölle: Schrecken" damit gemeint ist. Obwohl das neue Werk seines Landsmannes Michael Haneke "Liebe" ("Amour") heißt, sollte niemand auf ein Happy End am Schluss hoffen. Und wenn die Hauptfigur von Thomas Vinterbergs "Jagten" in Dänemark mit ihrer Büchse auf ein Reh anlegt, kann man davon ausgehen, dass bald sie gejagt werden wird.

Es war kein einfaches Wochenende in Cannes. Am Sonnabendmorgen rief ein Kellner in einem der Strandrestaurants mit ungläubiger Stimme, als habe er gerade Alfred Hitchcocks Geist erblickt: "Mon dieu, pluie!" Ein paar Stunden vorher, ein paar Hundert Meter weiter am Strand, hatte keiner einen Gedanken an Regen verschwendet, die Nacht war lau und blau, und Fatih Akin legte bis vier Uhr morgens auf; zum allerersten Mal liegen der deutsche und der türkische Pavillon direkt nebeneinander, und zur Feier der Sondervorführung von Akins "Müll im Garten Eden" waren die deutsch-türkischen Grenzen niedergerissen worden.

Aber im Wettbewerb, da regieren die Österreicher, und das ist kein Spaß. In "Paradies: Liebe" fliegt eine Behindertenbetreuerin - um die 50, an vielen Stellen schwabbelig - in den Traumurlaub nach Kenia. Es geht um Sonne und Meer und, ja natürlich, auch um die jungen, festen, schwarzen Körper, die ihre Dienste anbieten.

Michael Hanekes "Liebe" in Cannes gefeiert

Fatih Akin – unser Mann für Cannes

Seidl schickt seine Teresa durch vier Begegnungen, vier Kreise der Hölle, und jeder führt tiefer in Verzweiflung und Selbsterniedrigung. Ihr Erster redet unentwegt von Liebe, und Teresa ist nur zu gern bereit, sich becircen zu lassen, bis er sie ausnimmt, nach Strich und Faden. Beim Zweiten ist sie schon gewarnt und zieht die Notbremse, als er von dem Bruder erzählt, der nach einem Unfall ganz viel Geld fürs Krankenhaus brauche. Beim Dritten prostituiert sie sich schon selbst, doch der Freier will sie nicht. Und der Vierte, ein Geburtstagsgeschenk von ein paar anderen "Sugar Mamas" für eine Guppensexsause, kriegt ihn nicht mehr hoch, die ultimative Demütigung.

Es hat lange keinen Film mehr gegeben, der so grausam zu seiner Hauptfigur war, aber es ist die Grausamkeit der schonungslosen Ehrlichkeit, der absolut klaren Beschreibung eines Sachverhalts, von Altern, Ausbeutung, Einsamkeit. Seidl registriert unverwandt alles, die Klassenschranken, das nackte Fleisch, den stillen Schrecken im heiteren Paradies. Es ist eine quälende Erfahrung - aber das ist die ungeschminkte Wahrheit oft.

Damit verglichen, ist Michael Haneke - im März 70 geworden - fast milde. In seinem "Liebe" ("Amour") leben Anne und Georges, ein wohlhabendes, altes Paar, in einer Bürgerswohnung. Sie erleidet einen Schlaganfall, dann einen zweiten, und der Mann pflegt seine Frau, die einen Horror vor Krankenhäusern hat, hingebungsvoll. Es geht um letzte Dinge, um den Verlust der Selbstbestimmung, um das Akzeptieren des Nicht-helfen-Könnens, die Einsicht ins Abschiednehmen, vor allem aber um letzte Liebesdienste. Das wird von Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva grandios gespielt, und Isabelle Huppert ist ihre hilfslose Tochter. Michael Haneke hält die delikate Balance zwischen dem Dinge-beim-Wort-Nennen und Schonung, anders als der schonungslose Seidl. Auch so lassen sich letzte Wahrheiten sagen.

"Amour" ist sehr berührend - und doch fehlt dem neusten Haneke jener einzigartige Blick, der einem bei "Caché" und "Das weiße Band" das Gefühl gab, etwas nie zuvor Gesehenem beizuwohnen. Diesen Eindruck hat man hingegen bei Seidl und auch bei Vinterberg. Das ist die Geschichte eines Kindergärtners (Mads Mikkelsen), der in Verdacht gerät, sich seinen Schutzbefohlenen unsittlich genähert zu haben.

Vinterberg macht von Anfang an klar, dass Lucas unschuldig ist, aber die Umgebung beginnt trotzdem, auf ihn Jagd zu machen, seine Kollegen, seine Kumpel, sein bester Freund, die Ex. Es ist, wie "Amour", eine Geschichte, die schon öfter erzählt worden ist und die sich gerade realiter vor unseren Augen abgespielt hat, bei dem angeblichen Mädchenmörder in Emden, den der Internetmob am liebsten gelyncht hätte.

Die Gemengelage in solchen Fällen ist voller Fallstricke, denn wir haben es mit einer Gemeinschaft zu tun, die einerseits ihrem Nächsten alles denkbar Schlechte zutraut, anderseits aber den Glauben an Unschuld, verkörpert von ihren Kindern, aufrechterhalten möchte. Diese Sehnsucht ist natürlich auch Fiktion - hier liegt die Verbindung zu Hanekes "Weißem Band" -, und Vinterberg findet in seinem leisen Lynchmobthriller einen bewundernswürdigen Weg durch dieses verminte Feld: klare Parteinahme für den Unschuldigen, keine Verurteilung der Kinder, keine Denunziation der Erwachsenen - und einen Schluss, in dem der giftige Stachel noch steckt, der schon gezogen schien.

Nach vier Tagen Cannes haben wir also dreieinhalb Filme, die noch in unseren Köpfen nachrumoren (wenn man Wes Andersons "Moonrise Kingdom" dazuzählt, der am kommenden Donnerstag bereits in die deutschen Kinos kommt). Eine ziemlich gute Quote.

Natürlich waren da auch Enttäuschungen. Von dem Abend im überfüllten Deutschen Pavillon, wo Bayern gegen Chelsea übertragen wurde, wollen wir lieber nicht reden. Auch "Antiviral" von Brandon Cronenberg bedarf keiner größeren Erwähnung; das Debüt von Davids Sohn zeigt nur, dass man zwar Obsessionen erben kann, Talent aber nicht unbedingt mitvererbt wird. "Lawless" mit Shia LeBeouf ist bloß eine bis zur Unerträglichkeit in seine vermeintliche Coolness selbstverliebte Schwarzbrennersaga aus der Depressionszeit; eine Harvey-Weinstein-Produktion, bei der Kritiker schon vermuteten, sie sei Teil eines bei Festivals nicht unüblichen Kompensationsgeschäfts: Du nimmst dieses Jahr mein "Lawless", dann gebe ich dir nächstes Jahr meinen "Django Unchained". Aber nein, es kann nicht sein, denn die großen Werbeplakate für den neusten Tarantino hängen zwar schon über der Croisette - aber der kommt bereits vier Monate vor dem nächsten Cannes in die Kinos.