Eine kleine Gedenktafel gab vor Jahren den Anstoß. Sie erinnerte an zwei jüdische Festspielsängerinnen, die im Konzentrationslager umkamen.

Kurz vor der Eröffnung der Richard-Wagner-Festspiele 1998 am Grünen Hügel von Bayreuth wird, etwas versteckt in einer Nische unterhalb der Pausenterrasse, eine kleine Steintafel angebracht. Sie weist auf das Schicksal zweier mit den Festspielen verbundener Sängerinnen hin: Ottilie Metzger-Lattermann, gestorben "1943 im Konzentrationslager Auschwitz", und Henriette Gottlieb, gestorben "1943 in unbekanntem Konzentrationslager". Da ahnt Festspielchef und Wagner-Enkel Wolfgang schon: Diese Tafel ist "ein Zeichen, mit dem noch nichts erledigt ist".

Wohl wahr. Bis zum 14. Oktober wird in Bayreuth die Ausstellung "Verstummte Stimmen - Die Bayreuther Festspiele und die 'Juden' 1876 bis 1945" gezeigt - sie wurde gestern eröffnet. Dabei thematisierte Israels ehemaliger Botschafter in Deutschland, Avi Primor, das gespannte Verhältnis vieler Juden zu Wagner: "Meine Mutter, eine ganz große Wagner-Liebhaberin, sagte, wenn sie deswegen kritisiert wurde: Was haben Wagners Meinungen mit mir zu tun? Ich brauche seine Musik. Wenn der Hitler seine Orgasmen von Wagner bekommt, ist das seine Sache." Primor skizzierte die Historie des Antisemitismus, stellte Wagner in diesen Rahmen und fragte: "Aber war er der Einzige? Es gab so viele andere! Chopin, Carl Orff, Richard Strauss ..."

Primor plädierte aber auch für Respekt vor den Gefühlen von Holocaust-Überlebenden und Juden, die Wagner in Israel nicht hören wollen. Wichtig ist ihm die unaufgeregte historische Betrachtung und die in Deutschland vorbildliche Gedenkkultur. Beides sei die Garantie für die deutsche Demokratie und gegen eine Wiederholung der Verbrechen der Hitlerzeit.

Keine der beiden Festspielleiterinnen kam zur Eröffnung. Eva Wagner-Pasquier ließ sich krankmelden und vom Ausstellungsgestalter Peter Schmidt einen Text verlesen, die den festen Willen der Festspielleitung bekräftigte, die historische Schuld vorbehaltlos aufzuarbeiten: "Wir messen dem Inhalt der Ausstellung einen hohen Stellenwert bei und sind erschüttert und berührt von den gewaltsam zerbrochenen Lebensläufen."

Und das sind eine Menge: 28 große Bild- und Texttafeln stehen allein im Park unterhalb des Festspielhauses nahe dem gewaltigen Richard-Wagner-Kopf, den Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker geschaffen hat. Wagner ist umstellt von den Opfern von Hitlers Gewaltherrschaft.

53 Künstler fand das Ausstellungsteam um den Hamburger Historiker Hannes Heer, die nach 1933 von den Festspielen verbannt waren - neun aus der Leitungsebene und bei den Kapellmeistern, fünf Choristen, 16 Orchestermitglieder und 23 Solisten. Statt bisher von zweien, die ermordet wurden, kennt man nun zwölf. Auch lange vor 1933 war eine antijüdische Besetzungspraxis gang und gäbe in Bayreuth. 31 Fälle sind zu belegen. Über das technische Personal wurde nichts gefunden.

Dass so viele Verfolgte und Ausgegrenzte unbekannt waren, dass nicht einmal nach ihnen geforscht wurde, liegt auf der Linie dessen, was an den Opernhäusern von Hamburg, Berlin (Staatsoper Unter den Linden), Dresden (Semperoper), Stuttgart und Darmstadt, gefunden wurde, an denen die Ausstellung schon zu sehen war: Die Wahrer des "Wahren, Schönen, Guten" nach dem Zweiten Weltkrieg hatten lange ihre Augen verschlossen vor den Verstrickungen ihrer Häuser in die Nazidiktatur und deren Gedankenwelt.

Es war die kleine Gedenktafel von 1998, die den Anstoß für das Projekt "Verstummte Stimmen" gab: Der Hamburger Gestalter und Bühnenbildner Peter Schmidt, gebürtiger Bayreuther, entdeckt sie und will mehr wissen. Er spricht in Hamburg den Musikpublizisten Jürgen Kesting an, beide tun sich mit Hannes Heer zusammen, Macher der heiß diskutierten Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944".

Beim Hamburger Abendblatt finden sie 2006 Unterstützung. Der damalige Verlagsgeschäftsführer Christian Delbrück und Chefredakteur Menso Heyl machen sich dafür stark und holen die Axel-Springer-Stiftung als Finanzier ins Boot. An der Staatsoper setzt sich die neue Intendantin Simone Young für das Projekt ein. Am 23. Oktober 2006 wird "Verstummte Stimmen" in Hamburg eröffnet - eine Dokumentation von 71 erschütternden Schicksalen. Im Abendblatt erscheint eine große Serie zur Ausstellung, es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm.

"An allen Opernhäusern war man von wesentlich kleineren Fallzahlen ausgegangen. In Stuttgart waren 16 und in Darmstadt 20 Prozent der Mitarbeiter der Opernhäuser betroffen", weiß der Ausstellungsmacher. Oft schon vor 1933 wird mit Diffamierung, Schmähkritiken und inszenierten Skandalen Stimmung gegen jüdische Kunst und Künstler gemacht. Verfolgt werden auch technische Mitarbeiter, Leitungspersonal, Intendanten, Dirigenten, Theaterärzte. Nicht nur Juden werden verfolgt, auch Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter, Homosexuelle. Vor der Hamburgischen Staatsoper weisen seither zwölf Stolpersteine auf die ermordeten ehemaligen Mitglieder des Opernhauses hin. 120 000 bis 140 000 Besucher, schätzt Heer, haben die Ausstellung gesehen.

Und nun also Bayreuth. An keinem anderen Theater Deutschlands begann die Verstrickung ins nationalistische, antisemitische, nationalsozialistische Denken so früh, so eifernd und so folgenschwer wie im Umkreis von Festspielhaus und Richard Wagners Villa Wahnfried. Hier wurde, ausgehend von seinem Pamphlet "Das Judenthum in der Musik" von 1850/1869, ein kultureller Antisemitismus formuliert, gehegt. Von Wagner selbst, von seiner Frau Cosima, von dem nationalistischen und antisemitischen Denker Houston Stewart Chamberlain, über den der Wagner- und Bayreuth-Fan Hitler schrieb, Wagner und Chamberlain hätten "das geistige Schwert geschmiedet, mit dem wir heute fechten".

Man drängte Hermann Levi, den jüdischen Dirigenten der "Parsifal"-Uraufführung, sich doch bitte taufen zu lassen (was der verweigerte). Man gibt sich antisemitisch, versucht, selbst bekannte jüdische Spitzensänger vom Haus fernzuhalten, diffamiert sie - wie Cosima bei Lilli Lehmann, verschleppt Engagements - wie Winifred bei Frieda Leider, engagiert neben dem jüdischen Wotan Friedrich Schorr noch einen arischen, nachdem Hitler protestiert hat. Man nimmt sie, wenn es keine anderen gibt ("weil kein Arier zur Verfügung steht, müssen wir in den jüdischen Apfel beißen.") Von Bayreuth-Dirigent Felix Mottl stammt der Satz "Wir wollen doch die Juden außen lassen." Man freut sich, wenn ein jüdischer Musiker absagt: "Ein Jud' weniger."

Wagner-Sohn Siegfried und seine Frau Winifred sind schon 1923 während des Hitler-Putsches in München. Vor allem Winifred sonnt sich früh in Hitlers Nähe und bewahrt ihm bis zu ihrem Tod 1980 ein liebevolles Andenken.

Nach der Katastrophe kommt das "Neubayreuth" der Enkel Wieland und Wolfgang Wagner, die "Onkel Wolf" noch bestens kannten. Sie finden neue, entrümpelte Inszenierungen für Wagners Opern. In eigener Sache ist man weniger offen. Wenn jemand hartnäckig wissen will, wie das mit Hitler und Familie Wagner war, wie Wolfgang Wagners Sohn Gottfried in seiner Jugend und als er sein Buch "Wer nicht mit dem Wolf heult" schreibt, wird verstoßen.

Wirklich aufgearbeitet wurde bisher nicht allzu viel. Auch unter den neuen Festspielchefinnen Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, die seit 2008 im Amt sind, blieb es bei Ankündigungen; ihre Aufklärer, der Publizisten Peter Siebenmorgen und der Stuttgarter Historiker Wolfgang Pyta, haben bisher nichts vorgelegt.

Da kann die Festspielleitung eigentlich froh sein, dass ihr mit "Verstummte Stimmen" von Hamburg aus ein Stück Aufarbeitung publikumswirksam frei Haus vor die Tür gestellt wird. Bedingte Kooperation zeigt, dass das auch so verstanden wird. Eva Wagner-Pasquier, mit Peter Schmidt gut bekannt, hat den beziehungsreichen Standort bei Brekers Wagner-Kopf mit ausgesucht. So weit aber, die Eröffnung dorthin zu holen, ist man nicht gegangen - "Die Festspiele sind ja nicht Mitveranstalter", sagt Sprecher Peter Emmerich. Das ist neben der Stadt Bayreuth die Richard-Wagner-Stiftung, die gerade das Wagner-Museum in "Wahnfried" neu gestaltet. Mitfinanziert wird die Schau von der Friede-Springer-Stiftung, von der Bundeskulturstiftung und der "Zeit"-Stiftung.

"Die Familie hat mitgewirkt und doch wieder nicht", bilanziert Hannes Heer. Wolfgang Wagner habe in seinen letzten Lebensjahren die Ausstellung noch befürwortet, heißt es. Sein persönlicher Nachlass, der Tochter Katharina gehört, wurde dafür nicht zur Recherche freigegeben. Andere Nachlässe gehören anderen Teilen der Familie und blieben ebenfalls verschlossen - wie der Winifreds und Siegfrieds in München.

Immerhin hat Peter Emmerich angekündigt, dass die Gedenktafel unterhalb des Festspielhauses schon bald auf den neuen Stand der Forschung gebracht werden soll.