Die Literatur der Gegenwart ist längst nicht so schlecht, wie sie gemacht wird - eine Antwort auf die Streitschrift von Literaturreferent Wolfgang Schömel.

Wird es Zeit für eine Verteidigung der Gegenwartsliteratur? Wolfgang Schömel, der Literaturreferent in der Hamburger Kulturbehörde, hat ihr ein vernichtendes Urteil ausgestellt: Sie bestehe zu einem großen Teil aus Werken solcher Autoren, die ihr Geld eigentlich als Fernsehmoderator verdienen. Diese hätten an den "Aufmerksamkeitsbörsen" die größten Chancen und entfalteten große "zelebritäre Macht", was sie eben auch interessant für das gehobene Feuilleton mache. Hierzu ist zunächst zu sagen, dass Schömels Schelte auf einer großen Übertreibung beruht, zumindest im Hinblick auf fiktionale Literatur und nicht das Sachbuch, wo Fernsehmenschen wie Ulrich Wickert und Harald Schmidt mit ihren doch manchmal auch unerheblichen Büchern nerven. Es ist einzig die erstaunliche Charlotte Roche, an der angesichts der unglaublichen Menge von beinah zwei Millionen verkauften Büchern auch die ernst zu nehmende Literaturkritik nicht vorbeikommt.

+++Schreiben hat an Reiz verloren – Wer wird noch Schriftsteller?+++

Diese Resonanz mag Autoren ärgern, die sich im Schweiße ihres Angesichts mit ästhetischen Überlegungen und Stilfragen abmühen (was Roche selbstverständlich nicht tut). Das Interesse an Phänomenen wie dem der "Feuchtgebiete"-Autorin kann von den Kritikern nicht ignoriert werden: Wer sich solcherart über die Vorlieben des Publikums erhöbe, der blickte vom viel zitierten Elfenbeinturm auf die Niederungen des Massengeschmacks. Über den lässt sich genau das sagen, was die Verkaufslisten widerspiegeln: Fantasy, Vampirsagas und manchmal auch Krimis gehen ganz gut. Die "richtige" Belletristik, wenn man sie nicht nur als unterhaltende, sondern auch als schöne Literatur versteht, findet auf den Long- und Shortlists sowie in den Jury-Sitzungen derjenigen statt, die über Preis- und Stipendienvergaben entscheiden.

Aber das ist schon länger so. In der forcierten Medienkonkurrenz, in der mittlerweile selbst die Glotze um ihre Fangemeinde gegen das böse Internet und dessen 1001 Verführungen kämpfen muss, muss man zwar nicht froh sein, dass überhaupt noch gelesen wird. Man muss aber einsehen, dass der Kultur- und Unterhaltungskonsum sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat: So wenig es heute noch die engen Verhältnisse gibt, in denen kanonisierte Hervorbringungen der Kultur ihren unverrückbaren Rang haben, so wenig darf man in vergangenen Zeiten schwelgen, als neue Romane von Grass, Böll und Walser noch Ereignisse waren.

Wir befinden uns in einer Phase der kulturellen Zeitenwende. Das ändert aber natürlich nichts an einem Grundbefund unserer Gegenwart: Das Angebot ist viel zu groß. Das betrifft insbesondere den Buchmarkt, in dem, auch da hat Schömel natürlich recht, sehr viel Mediokres erscheint und auch manches Schlechte. Aber was heißt das schon, wo auch die Zeitgenossenschaft mit Thomas Mann nicht dagegen feite, die Trivialromane eines Karl May wahrnehmen zu müssen; wo der Theatergänger noch ein Jahrhundert vorher nicht nur die Dramen Goethes, sondern auch diejenigen Kotzebues zu sehen bekam. "Künstler und Schriftsteller haben markant an gesellschaftlicher Bedeutung verloren", sagt Schömel. Das stimmt, insofern sich der Marktplatz der Meinungen und Weltauslegungen ins Unermessliche erweitert hat. Im Netz kann jeder in seinem Blog seine Sicht der Dinge ventilieren. Und jeder kann heute ein Buch veröffentlichen, auch Fernsehmoderatoren.

Der Vorwurf, die Literatur sei unfähig, mindestens aber uninteressiert an Sprachkritik, trifft immerhin halb ins Schwarze. Wer mit der fein ziselierenden Karl-Kraus-Pinzette an ambitionierte Prosa geht, der tut immer ein gutes Werk: weil er schiefe Bilder findet oder andere Beispiele schlechten Sprachgebrauchs. Das muss alles ausgemerzt werden! Literarische Feinschmecker dürfen strenge Richtlinien an Sprachkunstwerke anlegen, Kritiker müssen es sogar.

Der Sprachpurismus mancher philologischer Gauwarte nervt allerdings unendlich - literarische Qualität kann ein Werk durchaus haben, auch wenn nicht jede Formulierung sitzt. Viel wichtiger ist, dass die Literatur ihrer ureigenen Aufgabe nachkommt: Gesellschaftlich relevante Themen auf ästhetisch anspruchsvolle Weise zu behandeln, gerne auch mit den Mitteln der literarischen Tiefengrundierung, also intertextuellen Verweisen.

Die Literatur ist längst nicht so schlecht, wie sie oft gemacht wird. Davon zeugen zum Beispiel die vielen DDR-Romane, die sich zufälligerwei-se (?) sehr geballt in diesem Jahr in den Auslagen sammeln. Angelika Klüssendorf, Judith Schalansky, Antje Rávic Strubel, Julia Franck, der Buchpreis-Gewinner Eugen Ruge: Sie alle erzählen von einer Epoche der jüngeren deutschen Geschichte. Ruge tut dies im Gewand des Familienromans. Auch der ist wieder en vogue und somit Ruge ein logischer Literatur-"Star" dieser Saison. Dass sein Buch sprachlich wenig komplex ist, sollte nicht gegen ihn verwendet werden. Es gibt, Gott sei Dank, keine Niveauschranke. Das Hochplateau erklimmen nur wenige.

Man könnte sich allenfalls fragen, warum manche der virulenten Themen (Internet, der Globalismus, die allgegenwärtige Krise) noch keine schlüssige Form in der Literatur gefunden haben - muss sie nicht immer vom Heute schreiben, von der aktuellsten Gegenwart? Nein, das muss sie nicht. Sie kann den Stoff, den die Realität bietet, auch erst mal liegen lassen und mit dem Abstand einiger Jahre veredeln.

Wer wirklich gut schreibt, wird übrigens auch wahrgenommen. Hochwertige Literatur wird in den Feuilletons, den Literaturhäusern und manchmal auch auf den Festivals vom Buchramsch geschieden: Dort haben literarische Leichtmatrosen wenig Chancen. Wer darüber hinaus die Marginalisierung von Literatur beklagt, der darf diese nicht mit den neuen Gesetzen der kulturellen und Unterhaltungsfelder verwechseln: Einen gemeinsamen Nenner, auf den sich die Frage nach dem, was jemand gelesen (und im Zweifel gut gefunden) haben muss, bringen lässt, gibt es nicht mehr. Die kulturelle Diversifizierung verhindert heute eine gemeinsame Grundlage des Reflektierens und Lesens. Selbst innerhalb des Bildungsbürgertums. Und manche lesen eben lieber "Feuchtgebiete".

Wolfgang Schömels Debattenbeitrag finden Sie auch auf abendblatt.de/schoemel