Die Literatur-Branche jammert seit langer Zeit, dabei ist die Lage keineswegs ernst - solange sich Dichtkunst auf ihre Stärken besinnt.

Wie steht es um die deutschsprachige Gegenwartsliteratur? Nicht gut, schrieb Hamburgs Literaturreferent Wolfgang Schömel zu Weihnachten im Abendblatt. So schlecht, wie sie gemacht wird, sei sie nicht, antwortete Abendblatt-Literaturredakteur Thomas Andre einige Tage später auf die Streitschrift. Heute beschließt Rainer Moritz, Chef des Hamburger Literaturhauses, die Debatte.

Kaum begann ich, mich intensiv mit Literatur zu befassen, sah ich mich von Krisen umstellt. Im Studium spezialisierte ich mich auf die klassische Moderne des 20. Jahrhunderts und musste schmerzhaft erkennen, dass sich die Literatur seit Proust, Joyce, Musil oder Robbe-Grillet in schwerem Fahrwasser befand und man mit Fug und Recht mit dem Literaturwissenschaftler Dietrich Scheunemann von einer "Romankrise" zu sprechen hatte.

Auf dem Gedichtsektor (Adorno! Auschwitz!) sah die Lage nicht erfreulicher aus, und Theaterschaffende bewegten quälend die Frage in ihrem Herzen, wie sich nach Beckett ernst zu nehmende Stücke überhaupt noch denken ließen. Ja, und um das Fass zum Überlaufen zu bringen, kam mir dann ein Aufsatz des Romanisten Bodo Müller in die Quere, der die Sache nicht besser machte: "Der Verlust der Sprache. Zur linguistischen Krise in der Literatur".

+++Schreiben hat an Reiz verloren – Wer wird noch Schriftsteller?+++

Seitdem ist nichts leichter geworden, und ich bemühe mich verzweifelt darum, wie man in Süddeutschland sagt, der "Not keinen Schwung" zu lassen. Nonchalant gehe ich mit der omnipräsenten Rede von Roman- oder Lyrikkrisen um, ertrage mühelos die Klage über den schwindenden Einfluss von Autoren auf die deutsche Gesellschaft, ohne länger darüber nachzudenken, ob man sich die Günter-Grass-Rechthaberei-Zeiten zurückwünschen sollte, und schreibe Literaturkritiken, obwohl ich weiß, dass sich die Literaturkritik seit Menschengedenken in einer Dauerkrise befindet.

Wenn es mir ganz schlecht geht, lese ich bei Johann Gottlieb Fichte nach, der sich 1806 (!) darüber beschwerte, "dass in diesem Systeme die Bücher lediglich gedruckt werden, damit sie rezensiert werden können, und es überhaupt keiner Bücher bedürfen würde, wenn sich nur Rezensionen ohne Bücher machen ließen".

Anders gesagt: Ich glaube nicht, dass Autoren von heute schlechtere Bücher schreiben als ihre Vorgänger in den 60er- und 70er-Jahren. Dass - um im Feld der Belletristik zu bleiben - Banales und Seichtes mehr Leser findet als Geistvolles und Tiefgründiges ist keine scharfsinnige neue Beobachtung. Es genügt, auf die Sellerlisten vergangener Jahrzehnte zu blicken und angesichts von Namen wie Utta Danella, Evelyn Peters, Michael Burk oder Johannes Mario Simmel zu registrieren, dass früher keineswegs alles besser war. Kafkas Prosa ging seinerzeit auch nicht wie warme Semmeln über den Ladentisch, und Marcel Proust verlegte den ersten Band von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" auf eigene Kosten.

+++Wer gut schreibt, wird auch wahrgenommen+++

Neu an der gegenwärtigen "Krise" sind vor allem zwei Aspekte: Der Kreis derjenigen, die sich für Literatur im engeren Sinne interessieren und nicht zuerst Unterhaltung oder Zerstreuung suchen, ist kleiner geworden. Verlage, die auf ästhetisch satisfaktionsfähige Titel setzen, müssen seit ein paar Jahren in der Regel mit erbarmenswürdigen Verkaufszahlen zurechtkommen, zumal das Feuilleton selbst bei höchsten Lobreden immer seltener Einfluss auf das Kaufverhalten der Lesewilligen hat. Gäbe es in Deutschland nicht ein einzigartiges Belohnungssystem von Stipendien und Preisen, müssten sich die meisten Autoren ganz andere Berufe suchen.

Und: je kleiner die Lust, sich auf sprachliche oder erzählerische Experimente einzulassen und von Literatur nicht nur das zu erwarten, was man ohnehin schon kennt, desto stärker die Neigung, das medial Vertraute auch in der Literatur als Qualitätsgarantie zu nehmen. Sachbuchverleger haben es unter diesen Vorzeichen manchmal leichter, denn wenn es ihnen gelingt, ihre Steinbrücks, Henkels, Käßmanns oder Prechts aufs Talkshowkarussell zu setzen, darf mit erfreulichen Absätzen gerechnet werden. Dass dem oftmals der Irrtum zugrunde liegt, Bildschirmpräsenz stelle per se ein Gütezeichen dar, steht auf einem anderen Blatt. Der zu Recht gern zitierte, wenn auch nicht repräsentative Fall der Charlotte Roche demonstriert dabei, dass selbst die ambitionierte Literaturkritik vom Bazillus der Medienhypes befallen ist und Bücher ausführlich würdigt, die literarisch unerheblich sind. Warum? Weil es die Feuilletonleser erwarten oder nur der Chefredakteur?

Was tun? Die Literaturkritik muss sich an die eigene Nase fassen und deutlich machen, dass die Literatur nur eine Rechtfertigung hat, wenn sie mit ihren ureigenen Mitteln etwas - nennen wir es ruhig Kunst - hervorbringt, dass nirgendwo anders zu haben ist. Wenn die Literatur, um zeitgemäß zu bleiben, versucht, mit dem Internet oder Fernsehen zu konkurrieren und sich in Blogs und auf Facebook tummelt, hat sie verspielt. Das können andere besser.

Und nicht zuletzt: Vielleicht könnten sich die viel und nicht immer zu Recht gescholtenen öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten wenigstens ab und zu dazu herablassen, die Literatur angemessen zu behandeln - und nicht nur, wenn Nobelpreise verliehen werden oder Christa Wolf stirbt. Was dabei das ZDF beispielsweise in den letzten Jahren angerichtet hat, ist ein Skandal. Literaten zu nachtschlafender Zeit auf ein in der Weltgeschichte herumgeisterndes "blaues Sofa" zu setzen ist in seiner (schlechten) Denis-Scheck-Imitation ein beschämendes Lehrstück für das öffentlich-rechtliche Desinteresse an Kultur. Aber um Ästhetisches geht es in dieser Literatursendung ohnehin nicht.

Und ganz zuletzt: Literatur habe, so Wolfgang Schömel und Thomas Andre, "gesellschaftlich Relevantes" darzustellen. Warum eigentlich? Und woran erkennt man, dass ein Romangegenstand gesellschaftlich relevant ist? Weil er vom Internet, vom Ende der DDR oder von Wallstreethasardeuren erzählt?

Wenn sich Autoren vornehmen, gesellschaftliche Relevanz auf ihre Fahnen zu schreiben, bekommt das ihren Werken selten. In der Literatur geht es komplizierter als auf der Meinungsseite einer Tageszeitung zu. Die gesellschaftliche Relevanz etwa von Julian Barnes' grandiosem Roman "Vom Ende einer Geschichte" zu ergründen ist kein leichtes Unterfangen. Und vielleicht auch nicht notwendig. Denn dieses Buch ist schlichtweg von menschlicher Relevanz und deshalb ein Beleg für die Nicht-Krise der Gegenwartsliteratur. Ein Trost.

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