Wer wird heute eigentlich noch Schriftsteller? Fast niemand, sagt Hamburgs Literaturreferent Wolfgang Schömel - außer man ist schon berühmt.

Hamburg. So einiges ist passiert im Literaturjahr 2011: Ein weitesgehend unbekannter schwedischer Lyriker gewinnt den Nobelpreis, ein fast vergessenes Volk im Nordatlantik wird Gastland der Frankfurter Buchmesse – und Charlotte Roche bringt es mit ihrem zweiten Roman auf den dritten Platz der "Spiegel"-Jahresbestsellerliste. Was sagt das über die Gegenwartsliteratur aus? Hamburgs Literaturreferent Wolfgang Schömel hat seine Thesen in einem Text zusammengefasst – Rainer Moritz, Chef des Literaturhauses und Abendblatt-Literaturkritiker Thomas Andre führen die Debatte zwischen den Jahren fort.

Literatur als Kunst hat folgende Kriterien zu erfüllen: Erstens, der präsentierte Text bewegt sich auf der Ebene existenziell relevanter Themen. Er hat, zweitens, bewusst konstruierte Tiefenebenen, ist verschlüsselt und entschlüsselbar, interpretierbar. Drittens bietet er eine Sprache, die sich selbst extremen Beschreibungsanforderungen gewachsen zeigt, auch, indem er die Sprache über sich selbst hinaustreiben kann. Er muss, viertens, von der ersten bis zur letzten Zeile erkennbar und identifizierbar sprachlich vom Autor bearbeitet sein.

Wenn dies alles gilt, dann ist die Lage der deutschsprachigen Literatur als Kunst offensichtlich schlecht, und zwar bis hinein in die Langlisten der Buchpreise, von den Bestsellerlisten ganz zu schweigen.

Sollte in der Flut der Neuerscheinungen in der sogenannten Belletristik (dieser Begriff gehört sofort abgeschafft bzw. aufgespalten) tatsächlich Literatur als Kunst im genannten Sinn vorhanden sein, hat sie schwindende Chancen, zum Leser zu gelangen, selbst wenn wir voraussetzen, dass es diesen Leser von Literatur als Kunst überhaupt noch in nennenswerter Zahl gibt, worüber eventuell zu reden sein wird.

An der schlechten Lage der Literatur als Kunst ist keine einzelne Berufsgruppe schuld, auch nicht ein einzelnes Phänomen. Da gibt es am Anfang den begabten, alerten und hormonstarken jungen Menschen, der jedoch immer weniger Lust hat, sich ausgerechnet für die Kunst zu quälen. Ihn locken lohnendere Dinge.

Da gibt es später den Verleger oder den Lektor, der abwinkt, wenn ein Text seiner Meinung nach zu komplexe Sätze und zu komplexe Gedanken oder zu viel schlechte Laune oder gar - das Schlimmste überhaupt! - zu viel Pessimismus enthält. Die in schierer Panik sich befindlichen Literaturverlage ersetzen, vorauseilend, ihre literarischen Entscheidungen noch schneller durch Marketingentscheidungen, als der Markt es von ihnen verlangt. Aber sie sind immer zu langsam, diese Hasen. Der Igel ist immer vorne und verhöhnt sie, unter anderem mit dem E-Book.

Und natürlich gibt es dann den Kritiker, die Kritikerin, der oder die zelebritätsgeil am allerliebsten diejenigen Werke hingebungsvoll kritisiert, die von Fernsehmoderatorinnen oder dergleichen geschrieben werden. Zu viele unter diesen Kritikern und Feuilletonchefs wollen möglichst nahe an der zelebritären Macht sein, sich in ihr spiegeln, selbst aufsteigen zu kapitalstarken Playern an den Aufmerksamkeitsbörsen. Das wichtigste Mittel hierfür ist die eklatante Nichtbeschäftigung mit der Sprache der besprochenen Bücher, bis hin zu der Behauptung, auch schlecht Geschriebenes könne durchaus Literatur sein.

Auch auf die Macht der Leser bzw. vor allem die der Leserinnen braucht man nicht isoliert einzuschlagen. Nicht auf den kunstignoranten Mann, der keine Bücher kauft und liest, es sei denn, sie haben unmittelbar mit seinen sportlichen, penetrativen oder Karriereplänen zu tun oder mit den infantilen elektronischen Gadgets, die ihn aufgeilen. Auch nicht auf die Kitschgehirne der typischen Chick-Lit-Vampir-Serienmörder-Beziehungsroman-Wellness-Leserinnen, die sehr viele Bücher kaufen, den Hauptumsatz der sogenannten Belletristik generieren und damit die meisten Inhalte indirekt vorgeben. Hinter allem steckt ein und dieselbe große Veränderung. Warum etwa quält sich der begabte junge Mensch immer seltener mit der Kunstproduktion? Zum Beispiel deswegen, weil selbst intelligente Groupies sich eher für Discjockeys, Türsteher, neuerdings sogar Fußballspieler - und Investmentbanker sowieso - interessieren, als für Loser-Dichter. Und weil die bedeutenden, reichen, mächtigen Männer eher fünftklassige Fernsehakteurinnen anbeten als Loser-Dichterinnen. Die Macht, die Zelebrität, der Adel der Aufmerksamkeit, natürlich auch das Geld sind woanders, nicht bei der Kunst, schon gar nicht bei der Literatur als Kunst.

Das war durchaus einmal anders. Ich zitiere den Soziologen Gerhard Schulze aus seinem Aufsatz "Kunst und Publikum im digitalen Zeitalter": "... mit dem Übergang ... zur bürgerlichen Öffentlichkeit wurde die Kunst zum höchsten Gut. Die Kunst verlieh geistigen Adel statt Adel durch Geburt."

Diese Zeiten sind gründlich vorbei. Allenfalls das sogenannte Bildungsbürgertum, das als Begrifflichkeit nach wie vor überall auftaucht, in der Wirklichkeit unserer Städte jedoch häufig nur noch als Halluzination, verehrt den Künstler und die Kunst als Höchstes - oder tut zumindest so, weil das im Showbusiness des höheren Kulturbetriebs ähnlich gut ankommt wie die Erzählung, man besitze aus Prinzip keinen Fernseher.

Literaturreferent und Schriftsteller

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Im Vergleich zu früher, ich zitiere abermals Gerhard Schulze, "ist die Kunst marginal geworden, oft nur ,eine Kultur' fürs Wochenende. Auch in der repräsentativen Öffentlichkeit war die Kunst marginal, aber sie war es auf ganz andere Weise als heute. Damals war sie auf ein politisches oder religiöses Zentrum bezogen. Heute dagegen existiert alles und jedes für sich ohne Bezug zueinander und türmt sich zu einem gestaltlosen Haufen, dem die Kunst ebenso angehört wie die Spielvereinigung Greuther Fürth."

Künstler und Schriftsteller haben markant an gesellschaftlicher Bedeutung verloren. Einzig der Hebel der Haupt-Aufmerksamkeitsmaschinen kann ihnen diese Bedeutung verleihen. Die Schriftsteller haben mit ihren Werken nicht mehr als geringwertige Optionsscheine, die nicht ihre Verlage, nicht sie selbst, sondern erst die Aufmerksamkeitsmaschinen einlösen können. Der Wiener Professor Georg Franck schreibt in seinem Aufsatz "Celebrities: Elite der Massengesellschaft" dazu, ich zitiere: "Auf den Finanzmärkten der Beachtlichkeit treffen und mischen sich die Vertreter der einst sauber getrennten Sparten der hohen und populären Kultur im Buhlen um die Gunst der Investoren. Den Investoren ist die Sparte egal, solange sich die Investition in Sachen Quote lohnt." Soweit einige Thesen zur Lage der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.

Die Frage ist: Lassen sie sich auch aus der Warte der Hamburger Literatur- und Autorenförderung belegen? Dies ist in der Tat der Fall: In diesem Jahr haben sich erstmals in über 20 Jahren weniger als 200 Bewerber für die Literatur-Förderpreise gefunden, gleich 50 weniger als 2010, davon übrigens etwa zwei Drittel Frauen, prozentual mehr als je zuvor. Der Traumberuf "Schriftsteller" war immer schon schwierig zu verwirklichen. Neu ist, dass er an Reiz verloren hat - vor allem für die jungen Männer.