Mario Vargas Llosa, Bill Bryson und Eugen Ruge: Wir stellen unsere Bestenliste mit einer Auswahl der spannendsten Titel dieses Herbstes vor.

Die Kriterien waren natürlich streng subjektiv, das Anliegen verdienstvoll: Die Literaturredaktion des Abendblatts hat die wichtigsten Neu-Erscheinungen des Buchmarkts ausgewählt. Wir wollen ein wenig Ordnung ins Chaos bringen: Wie soll man angesichts der Buchschwemme den Überblick behalten, gar wissen, was lesenswert ist, gut unterhält, fesselt und über Qualität verfügt? Rund 100 000 neue Bücher erscheinen jedes Jahr auf Deutsch, 14 000 davon im belletristischen Bereich, sie sind mit 22 Prozent der Hauptumsatzbringer. Bestsellerlisten werden seit vielen Jahren von Krimis, Historienschinken oder Titeln bereits erfolgreicher Autoren dominiert. Dora Heldt, Jussi Adler-Olsen, Rebecca Gablé, David Safier oder Charlotte Roche sind Beispiele dafür.

Eine Bestenliste, wie sie beispielsweise der Südwestrundfunk monatlich veröffentlicht, setzt sich aus Empfehlungen von 30 Literaturkritikern zusammen. Da finden sich dann in diesem Monat die neuen Romane von Angelika Klüssendorf, Judith Schalansky, Robert Bober oder Michael Kumpfmüller, jene Titel, die auch in den Literaturbeilagen besprochen werden.

Wo aber findet man Trouvaillen, Unbekanntes, Unerhörtes, Fesselndes? Manchmal nimmt man Geheimtipps gar nicht wahr - eben weil sie viel zu geheim sind. Da heißt es: In Buchhandlungen stöbern, stöbern, stöbern. Oder auf den Literaturseiten die richtigen Empfehlungen finden. Gar nicht selten sind es ja auch etablierte Autoren, die Platzhirsche und Großschriftsteller, die uns mit wertvollem Lesefutter versorgen. Die Abendblatt-Literaturredaktion, bestehend aus Thomas Andre, Armgard Seegers und Volker Albers, hat sich durch die Herbstprogramme der Verlage gelesen. Und dabei garantiert vieles übersehen, was auch eine Lektüre wert wäre. Eine "Spitzen-Elf" für die nun anbrechende dunkle Jahreszeit ist trotzdem locker zusammengekommen - sieht man mal von Geschmacksfragen ab, die bei der Besetzung unserer Empfehlungsliste aufgeworfen wurden.

Unsere Auswahl aus Krimis, Romanen und Sachbüchern ist streng subjektiv und schielt ganz bestimmt nicht nach Konsensfähigkeit. Es geht um gute Bücher, um fesselnde Lesestoffe. Um Unterhaltung. Um Wissen.

Darum, was Sie in diesem Jahr noch unbedingt lesen müssen.

Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern

Glaube keiner, dass erwachsene Menschen nicht zu ähnlich irrationalen Unternehmungen fähig wären wie jugendliche Fans, die Popstars anhimmeln. In Jasnaja Oljana, dem Landgut Tolstois, sollen der Literaturstar und sein Kollege Tschechow in einem Bächlein gebadet haben. Der Teilnehmer einer Tolstoi-Tagung, ein Tolstoianer, hat nichts Besseres zu tun, als sich in ebendieses Gewässer zu setzen. Als Reminiszenz und Huldigung. Oder so.

"Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern" (Kein & Aber, 368 S., 22,90 Euro): Diesen schönen Titel trägt das wunderbare Buch der Amerikanerin Elif Batuman. Die junge Frau, Jahrgang 1977, erklärt in ihrem Buch, das ein überschäumendes Werk der Bewunderung für die großen Gesellschaftsromane ist, wie Literatur und Leben miteinander in Verbindung stehen. Die perfekte Lektüre für alle Literatur-Enthusiasten. (tha)

In Zeiten des abnehmenden Lichts

Eugen Ruge durchmisst in "In Zeiten des abnehmenden Lichts" (Rowohlt, 432 S., 19,90 Euro) das 20. Jahrhundert und dessen politische Wechselfälle anhand des großartigen Porträts einer Kommunisten-Familie. Es ist die Geschichte eines Verfalls, ein fesselnder Epochenroman, eine aus vielen Erzählungen gestaltete Familiengeschichte über Zeit-"Genossen", Fossilien einer untergegangenen Gesellschaft. Entstanden ist ein Bilderbogen, ein "Buddenbrooks"-Roman des Ostens. Hier geht es um Menschen, ihre Hoffnungen und Lebenslügen, um den verbohrten Idealismus einer DDR-Gründergeneration, die opportunistische Loyalität zur Partei und den Unwillen der Nachfolgenden, diesen Idealen zu folgen. Die subjektiven Eindrücke, die Legenden, mit denen die Familiengeschichten zusammengebastelt werden, machen die Menschen lebendig und bringen sie uns ganz nahe. (See)

Sickster

Irgendwann liegt Magnus am Boden. Die Bullen drücken ihn runter, bis er den kalten Grund der U-Bahn-Station küssen kann. Nicht dass ihm dazu zumute wäre - oder vielleicht gerade doch? Magnus ist ziemlich abgedreht.

Er leidet unter Verfolgungswahn. Böse Gesellen allüberall, vor allem: böse Kapitalistenmenschen. Dieser Magnus ist nicht der Einzige, der in Thomas Melles einigermaßen desillusioniertem Roman "Sickster" (Rowohlt, 330 S., 19,95 Euro) vom Leben in den Wahnsinn gerät. Da ist sein Bekannter Thorsten, der wie er in einem großen Mineralölkonzern arbeitet und darüber zum sexuell verrohten Alkoholiker wird. Und da ist Thorstens Freundin Laura, die sich selbst verstümmelt und unter einer bipolaren Störung leidet. Am Ende verschwören sie sich gegen das System. Ein moralisches Buch. (tha)

Gegen die Welt

Die Meisterschaft des Schriftstellers Jan Brandt zeigt sich in vielen Dingen. Dem großen Ganzen: einem apokalyptischen, zitternden, düsteren Provinz-Epos. Der kleinen Miniatur, der Szene: Versteht Daniel Kuper, der Außenseiter (als solcher wird die Figur paradigmatisch in die Literaturgeschichte eingehen), dass sein Vater gerade einen Ehebruch begeht? Daniel, der Held in "Gegen die Welt" (Dumont, 927 S., 22,99 Euro), klappert gerade mit seinem Fahrrad übers flache Land, als das Auto der Eltern vor ihm auftaucht. Es steht so da, die Scheiben sind beschlagen, und Daniel eiert um die Karre herum, bis ihn der Vater wegschickt.

Große Szene, großes Buch. Der Vater ist eine irritierende Gestalt, wie so viele in Brandts Debütroman, der für den Buchpreis nominiert ist. Möge der Ostfriese den Sieg davontragen. (tha)

Der Traum des Kelten

Die Geschichte des Iren Roger Casement, erzählt von Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa - das ist in dem jetzt auf Deutsch erscheinenden Roman des Peruaners ein literarisch veredeltes Abenteuer. Einen Plot musste er sich nicht ausdenken. Die reale Figur Casement ging zunächst nach Afrika, wo er für verschiedene Unternehmen arbeitete. Dann zog es ihn als Diplomat nach Südamerika. Er wurde Menschenrechtsaktivist. Von da ist es ein weiter Weg bis zur Hinrichtung wegen Hochverrats 1916. Vargas Llosa zeichnet ihn souverän nach: Der Abenteurer Casement, der als irischer Held und Feind der britischen Krone starb, sah viel von der Welt - viel Schreckliches. Wir sehen es mit ihm. "Der Traum des Kelten" (Suhrkamp, 447 S., 24,90 Euro) endet in der Todeszelle. Der Mann machte (fast) keine Kompromisse. (tha)

Anatomie einer Affäre

Die Irin Anne Enright erhielt für "Das Familientreffen" den renommierten Booker-Preis. Im November erscheint nun "Anatomie einer Affäre" (DVA, 311 S., 19,99 Euro), die Sezierung einer Beziehung voller Leidenschaft und Glück, in die das Schweigen, Gewissensbisse, Vorwürfe und Schuld eindringen. "Wir redeten über seine Frau", heißt es in der Mitte des Buches "denn das ist die Sache mit der gestohlenen Liebe: Es ist wichtig zu wissen, wem man sie stiehlt." Enrights Personal ist obere Mittelklasse. Gina, die Erzählerin, eine unabhängige 34-Jährige, verliebt sich in Sean und umgekehrt. Beide sind verheiratet. Sean hat eine Tochter. Das Verhältnis hat etwas Geschäftliches. Und doch durchläuft es die Stadien der Leidenschaft mit Verführung, Flucht, Verteidigung. Enright spricht Wahrheiten aus. Schonungslos. (See)

Die Elenden von Lodz

Den sogenannten "Judenältesten" des Gettos in Lodz, Chaim Rumkowski, gab es wirklich. Die meisten anderen Figuren in Steve Sem-Sandbergs wichtigem Roman "Die Elenden von Lodz" (Klett-Cotta, 651 S., 26,95 Euro) sind aber erfunden. Oder der Realität abgeschaut: Der Schwede Sem-Sandberg, der auch einen Wohnsitz in Wien hat, ließ sich für sein Werk von der Getto-Chronik inspirieren. Die wurde von den dem Tod Geweihten geschrieben, es war ein Vermächtnis für die Nachwelt.

In "Die Elenden von Lodz" wird von den großen und kleinen Dramen erzählt, die sich im Getto abspielten. Und vom großen Menschheitsverbrechen, das auch die seltsame und abgründige Figur Rumkowski nicht verhindern konnte. Am Ende wird der "König" des Gettos zum Verräter seines Volkes, obwohl er es doch retten wollte. (tha)

Das Licht in einem dunklen Haus

Am Anfang wird eine Frau ermordet, die im Koma liegt. Am Ende freut sich Kimmo Joentaa, der finnische Kommissar, darüber, dass kein Licht brennt in seinem Haus. Dazwischen liegt eine Geschichte des Ungeheuerlichen. Jan Costin Wagner, 38, erzählt in seinem wunderbaren Kriminalroman "Das Licht in einem dunklen Haus" (Galiani, 352 S., 19,99 Euro) von Missbrauch und Moral, von Rache und der Suche nach dem kleinen Glück. Und während die Spur der Ermittler zurückführt in die 80er-Jahre, mitten hinein in einen heißen Sommer in der finnischen Provinz, wartet Kimmo Joentaa, dieser melancholische Held, auf seine Geliebte Larissa, die ihn verlassen hat und deren wahren Namen er nicht kennt. Es ist ein grandioser Kriminalroman, den Wagner geschrieben hat, sprachlich Seelenzustände sezierend, brillant erzählt in bester skandinavischer Manier. Von einem deutschen Autor. (va)

Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge

Bill Brysons "Eine kurze Geschichte der Zeit" war ein Weltbestseller. Brysons "Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge" (Goldmann, 640 S., 24,90 Euro) erklärt nach demselben Prinzip alles, was zu einem Haus gehört, und liefert damit eine perfekte, unterhaltsame Welt- und Kulturgeschichte übers Essen, Schlafen, Leben. "Ein Haus ist ein Universum", sagt Bryson. Er durchwandert es, erzählt witzig von Kaffee, Wasserklosetts, Sofas, Küchenherden, und zwar das, was man bisher so noch nicht wusste. Er erklärt uns, dass in früheren Jahrhunderten Kinder, Eltern und Hausangestellte im selben Bett geschlafen haben, welches dazu oft kratzig war, weil mit Stroh gefüllt. Es geht um lauter spannende Alltagsdinge, um all das, was man uns im Geschichtsunterricht verschwiegen hat, weil es nicht um große Schlachten ging, sondern nur ums ganz banale Leben. So was macht Spaß und ist herrlich lehrreich. (See)

Die gelben Augen der Krokodile

Frankreich hat mit Anna Gavalda oder Marc Levy Schriftsteller, die kurzweilig schreiben können. Ihre Geschichten lesen sich wie dem Leben abgeschaut, für den Fall, dass das Leben gut ausgeht. Katherine Pancol ist der neue Star am französischen Literaturhimmel, wenn es um Lektüre geht, die als Frauenbuch oder Urlaubslektüre abgetan wird, die aber viel zu gut geschrieben ist, um ins Klischee zu passen. "Die gelben Augen der Krokodile" (C. Bertelsmann, 605 S., 22,99 Euro) heißt der Roman, der zwar alle Bausteine eines Herzschmerz-Krachers vereint - verlassene Ehefrau, Mauerblümchen, schwierige, pubertierende Tochter, dicke zweite Tochter, harter Berufsalltag und ein möglicherweise interessanter neuer Mann -, aber das Ganze ist doch mehr als Suche anzusehen. Als Suche aller nach der passenden Form von Leben, nach Sicherheit, die man gewinnt. Ja, und natürlich nach Glück. (See)

Mein wundervolles Genom

Therapeuten erfreuen sich weiter großer Beliebtheit. Man will etwas über sich und seine psychischen Malaisen erfahren. Das ultimative Wissen über uns selbst versteckt sich aber in unserem Genom. In der DNA ist gespeichert, an welchen Krankheiten wir erkranken (können) und zu welchem Verhalten wir neigen. Jeder kann sein Genom entschlüsseln lassen. Die Wissenschaftsautorin Lone Frank hat dies getan, von ihrem Selbstversuch berichtet sie in dem locker geschriebenen und kenntnisreichen Buch "Mein wundervolles Genom" (Hanser, 336 S., 19,90 Euro).

Wir befinden uns längst, sagt Frank, im Zeitalter der Konsumgenetik. Gentests werden an jeder Ecke angeboten. Was bedeutet das neue Wissen über uns selbst für den Umgang mit der Zukunft? Ist ein genetisches Horoskop überhaupt wünschenswert. (tha)