Mit “Finlandia“ wurde der Komponist Jean Sibelius weltbekannt. 54 Jahre nach dem Tod fanden Experten jetzt Fragmente seiner 8. Sinfonie.

Hamburg. Mit 80 Jahren zu erkennen, dass man an einer Lebensaufgabe gescheitert ist, kann Menschen umbringen. Meine Achte oder ich, mag sich der greise Komponist Jean Sibelius gedacht haben, als er 1945 das Ergebnis von fast zwei Jahrzehnten harten Ringens in seinem Kachelofen verbrannte. Sibelius überlebte diese eigenhändige Hinrichtung seines Traums um zwölf Jahre. Das nie vollendete Spätwerk des finnischen Nationalkomponisten wurde zum Stoff für eine Legende und sogar zum Opernthema: 2009 schrieb der aus Hamburg stammende Komponist Mathias Husmann die Oper "Zugvögel" über dieses Künstler-Drama.

Immer wieder haben Sibelius-Experten sich auf die Suche nach Spuren der verloren gegangenen Achten gemacht, als ginge es um nicht weniger als den Gral. Denn kaum etwas in der Kunst ist so faszinierend wie Dokumente des Scheiterns auf hohem Niveau. Jetzt, so scheint es, könnten zumindest Bruchstücke von Sibelius' letzter Sinfonie gefunden worden sein: drei Fragmente, insgesamt keine drei Minuten Musik und doch eine Sensation für die musikliebenden Finnen, denen Sibelius mit seiner Tondichtung "Finlandia" die inoffizielle Nationalhymne schrieb.

Was dieser Fund, über den die Tageszeitung "Helsingin Sanomat" kürzlich berichtete, für die Finnen bedeutet, kann eine sehr gewagte Fantasie erklären helfen. Nehmen wir an, der deutsche Nationaldichter Goethe hätte auf seine alten Tage nach dem "Faust II" noch an einem dritten Teil gearbeitet; zwischen Euphorie und Depression trudelnd, Verleger und Theater-Intendanten immer wieder vertröstend, nur um nach etlichen Jahren mitzuteilen, er habe alle Unterlagen vernichtet. Und dann, viel später, geht ein Wissenschaftler in ein Archiv, sichtet Manuskriptseiten - und staunt.

Wenn Werke von ihren Schöpfern vernichtet wurden, dann eher die ganz frühen, unausgereiften, die Anfängerarbeiten. Nicht alle besaßen das Ego oder die Reife, auch Jugendwerke dauerhaft für gelungen zu halten. Und nicht alle lagen bei der Beurteilung ihrer Arbeiten richtig. Berühmtestes Beispiel dafür dürfte Franz Kafka sein, zu Lebzeiten unveröffentlicht und unbekannt, der seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod befahl, alle Manuskripte zu vernichten. Hätte sich Brod an diese Weisung gehalten, wäre die literarische Welt um Epochales ärmer.

Sagenumwobener sind die Werke, bei denen in den meisten Fällen der Tod die Vollendung verhinderte. Bachs "Kunst der Fuge", Mozarts Requiem, Bruckners Neunte und Mahlers Zehnte, aber auch Schuberts "Unvollendete" umweht auch die Aura des Jenseitigen. In anderen Kunstsparten lassen sich ähnlich berühmte Beispiele finden: Romane wie Musils "Mann ohne Eigenschaften", Flauberts "Bouvard et Pécuchet", Opern wie Bergs "Lulu" oder Puccinis "Turandot". Wie bei einem Krimi, dem die letzten Seiten fehlen, grübelt und rätselt die Nachwelt bei jedem Fragment zu gern über das, was vom Meister nicht mehr zu haben ist.

Seine Siebente hat Sibelius 1924 vollendet, er war 59 Jahre alt und auf dem Zenit seines Könnens. Es folgten noch eine raffinierte Schauspielmusik zu Shakespeares "Sturm" und die Tondichtung "Tapiola". Dass er bis zu seinem Tod nichts vergleichbar Großes mehr schaffen würde, ist eine bittere Ironie, beispiellos in der Musikgeschichte.

Jahrzehntelang konnte Sibelius nicht klagen. Er war erfolgreich, gönnte sich das Leben eines Genießers. Gänsebraten und Wild, Austern und Champagner. Sogar zum Angeln ging Sibelius im Anzug. Das berühmte "Valse triste"-Thema soll ihm nach einer Überdosis Chinin eingefallen sein. Als die vernachlässigte Gattin Aino zu fragen wagte, wann er nach seinen feuchtfröhlichen Lokalrunden durch Helsinki heimzukehren gedenke, bekam sie die süffisante Antwort: "Meine liebe Frau, ich bin Komponist, kein Hellseher."

Als sich Sibelius 1926 an die Arbeit für die Achte machte, ließ sich das Unterfangen offenbar noch gut an. "Mein neues Stück wird wundervoll", schrieb er 1928, "es wird viel Zeit brauchen, aber es gibt keine Eile." In den nächsten zwei Jahren veröffentlichte er nur Petitessen, Kammermusik, einen Chorsatz. Fingerübungen.

1931 setzte sich der Altmeister selbst unter Druck. Er versprach Sergej Koussevitzky, die Achte würde noch bis zum Jahresende vollendet sein. Koussevitzky, der Karajan seiner Zeit, sollte die Premiere mit dem Boston Symphony Orchestra dirigieren dürfen. Im Januar 1932 erhielt er ein Telegramm aus Finnland: "No symphony this season STOP." Im Juni 1932 blühte die Hoffnung auf, Koussevitzky könne das Stück im Oktober dirigieren. Im Oktober folgte das Versprechen, ihm vor Dezember eine handgeschriebene Partitur zu liefern. In jenem Monat prahlte Sibelius vor einem Freund: "Du kannst dir nicht vorstellen, wie großartig dieses Stück ist."

Am 17. Januar 1933 ein weiteres Telegramm an Koussevitzky: "Sorry impossible this season STOP" (Tut mir leid, in dieser Spielzeit unmöglich). Nicht nur er wartete vergeblich, auch der britische Dirigent Basil Cameron, dem Sibelius die Europa-Premiere versprochen hatte. In London hatte man bereits Plakate gedruckt und für eine Schallplatten-Einspielung Werbung gemacht. Die Musikwelt wartete und wartete. Von Sibelius' Sekretär ist überliefert, dass er ihn um Himmels willen nicht auf dieses heikle Thema ansprechen durfte. Und doch kündigte der Komponist im Sommer 1933 vollmundig an, die Achte sei kurz vor der Vollendung. "Es wird wohl meine Letzte. Acht Sinfonien und 100 Lieder. Das muss genug sein."

Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Achte tatsächlich kurz vor der Ziellinie, entweder in verschiedenen fertigen Versionen oder Vorstufen. Es gibt einen Beleg vom 4. September 1933, dass Sibelius' deutscher Kopist Paul Voigt 23 Partitur-Seiten des ersten Satzes an ihn sandte. Sibelius war damit zufrieden und schrieb eine Notiz auf Deutsch an den sächsischen Musiker: "Schluss: Fermate. Largo sofort anschließen. Das Ganze wird ungefähr achtmal dieses." Konkreter geht es kaum. Doch diese Kommentare sind die letzten, die so optimistisch klangen.

Sibelius gab seinen Forscher-Detektiven sogar noch ein weiteres Rätsel zu knacken: eine Rechnung über sieben gebundene Werke. Waren es die ersten sieben Sinfonien? Waren es die bei Voigt erwähnten Teile, die noch fehlten? Hatte die Achte, völlig untypisch für eine Sinfonie, womöglich sogar acht Sätze statt der üblichen vier oder fünf? Niemand weiß es. Das Phantom der Achten verschwand zwölf Jahre von der Bildfläche. 1943 ließ Sibelius seinen Schwiegersohn wissen, es gebe da ein Stück, das er hoffentlich noch vor seinem Tod beenden könne.

Sibelius' Enkel Erkki Vikkunen beschrieb später die historische Szene auf Ainola, dem Landsitz des Großvaters, nachdem Sibelius 1945 seine Achte verbrannt hatte: "Großmutter war den Tränen nah, sie war total schockiert. Für Großvater war das halb so wild, für ihn schien diese Tat vor allem lustig zu sein." Der Albtraum hatte ein Ende. "Danach war das Wesen meines Gatten ruhiger und sein Gemüt heller. Es war eine glückliche Zeit", erinnerte sich Aino Sibelius.

Einige Tage zuvor hatte ihr Mann noch an den Dirigenten Cameron geschrieben: "Ich habe meine Achte mehrfach vollendet, aber ich bin immer noch nicht zufrieden damit. Es wird mir ein Vergnügen sein, sie Ihnen zu übergeben, wenn die Zeit gekommen ist."

Noch 1947 will ein Besucher auf Ainola die gebundene Achte gesehen haben, sogar mit Chorsätzen. Hatte Sibe lius sich also an Beethovens Neunter orientiert, dessen großer, letzter Chorsinfonie? Und schon vor Sibelius' Tod begann das Rätselraten, denn er hatte Jahre nach der Notenverbrennung geheimnisvoll behauptet, es gäbe doch noch "komplette" Entwürfe.

Seit den 1990er-Jahren wird der Manuskript-Nachlass gesichtet und katalogisiert, den die Familie des Komponisten der Universität von Helsinki und der Nationalbibliothek übergeben hatte. Darunter waren auch Notizen aus der Entstehungszeit der Achten sowie eine Seite mit Entwürfen für die Siebente, auf der neben dem Vermerk "VIII" ein Melodie-Bruchstück stand. Das war es dann aber auch.

Die Forscher hatten nichts Brauchbares in der Hand. 2004 verhob sich ein Sibelius-Forscher an der These, er könne aus einigen der unidentifizierten Bruchstückchen die komplette 8. Sinfonie zusammenbasteln. Es blieb bei der Behauptung. Es gab nichts, was man sich hätte anhören können. Bis jetzt.

Auslöser der akuten Begeisterung in Helsinki war Timo Virtanen, ein Mitarbeiter der kritischen Sibelius-Gesamtausgabe. Er hat in den Materialbergen Entwürfe entdeckt, die bislang keinem Werk zugeordnet wurden. "Diese Fragmente weisen uns in Richtung der Achten", behauptet er, "und sie belegen, dass Sibelius' Musik einen überraschenden Richtungswechsel vollzog." Dissonanter, spröder, moderner.

Auf Anregung von Vesa Sirén, dem Musikkritiker von "Helsingin Sanomat", erstellte Virtanen Einzelstimmen und eine Partitur, um die Bruchstücke von einem Orchester aufführen zu lassen. Die beiden fuhren damit zum Musiikkitalo, dem neuen Konzerthaus von Helsinki, um das Material gleich zwei Dirigenten vorzulegen: Sakari Oramo, Chef des Radionsinfonieorchesters, und John Storgårds vom Helsinki Philharmonic. "Das ist ziemlich aufregendes Zeug", war Oramos erster Kommentar.

Storgårds machte mit seinem Orchester die Probe aufs Exempel. Als die ersten Töne erklangen, brach eine Mitarbeiterin des Orchesters neben ihm in Tränen aus, beschreibt Sirén die Uraufführung im Probensaal.

Storgårds berichtet, ihm sei es beim Dirigieren heiß und kalt den Rücken hinuntergelaufen. "Man erkennt sofort den späten Sibelius. Aber die Harmonien sind so wild, die Musik ist so aufregend. Ich wüsste zu gern, wie es weitergeht." Drei Abschnitte erklingen, der erste ist etwa eine Minute lang, der zweite dauert nur acht Sekunden, der dritte wiederum etwa eine Minute. Damit schließt sich das Tor zur Legende wieder.

Für den "Zugvögel"-Komponisten Mathias Husmann bestätigt das Hören dieser Musik im Video-Link von "Helsingin Sanomat" seine Erwartungen: "Man hört Schmerz, Aufruhr, das Wachsen von etwas Entsetzlichem. Sibelius ist am 20. Jahrhundert gescheitert."

Die Musikwelt ist mittlerweile hellhörig geworden. Etliche Fachjournalisten haben über den Notenfund berichtet, Storgårds hofft angeblich darauf, mit dem BBBC Philharmonic Orchestra in Manchester der Erste zu sein, der die Sibelius-Fragmente in einem Konzert aufführt.

Ob ihrem Schöpfer diese posthume Premiere recht gewesen wäre, ist ein weiteres unlösbares Rätsel. Jean Sibelius starb am 20. September 1957, fast 92 Jahre alt. In die Todesanzeige schrieb seine Witwe Aino: "Musik ist aus Sorgen entstanden."

Die erste Aufführung der Sibelius-Fragmente durch das Helsinki Philharmonic wurde auf Video aufgenommen. Abendblatt-Leser können es sehen und die Musik hören unter www.abendblatt.de/sibelius8