Heimatkunde aus dem Nachbarland: Die Galerie Hilaneh von Kories zeigt mit “Belgicum“ die besten Arbeiten des Fotografen Stephan Vanfleteren

Hamburg. Wer einmal in Antwerpen oder in Brügge Urlaub gemacht hat, wird sich gern an die gut erhaltenen mittelalterlichen Gebäude und die pittoresken Gassen in den Stadtkernen erinnern. Die flandrischen Städte sind überaus beliebte Touristenattraktionen. Doch es gibt auch eine andere Wahrnehmung von Belgien. Nach dem Fall des Kindermörders Marc Dutroux im Jahr 1995 entstanden Dutzende von üblen Kinderschänder-Witzen über unsere westlichen Nachbarn. Die Belgier werden für ihre durchgehend beleuchteten Autobahnen verlacht, die man angeblich vom Mond aus sehen kann. Sie gelten als schlechteste Autofahrer Europas, und nicht nur die Franzosen titulieren sie wegen ihrer Vorliebe für Kartoffelprodukte als Frittenköppe. Dass Belgien seit eineinhalb Jahren keine Regierung besitzt, wird in Europa ebenfalls mit ungläubigem Kopfschütteln quittiert. So weit die Klischees.

+++ Das hier ist Kunst, da kann nichts weg +++
+++ Tomi Ungerer: Der Picasso der Illustration +++

"Belgicum" ist anders. Es ist das Lebensprojekt des Fotografen Stephan Vanfleteren. Fast 20 Jahre lang ist der 1969 in Kortrijk in Westflandern geborene Fotojournalist und -künstler immer wieder durch die belgischen Provinzen Flandern und Wallonien gereist und hat versucht, seine Heimat mit den Mitteln der Schwarz-Weiß-Fotografie zu ergründen. Die zum Weltkulturerbe zählenden historischen Gebäude ließ er dabei aus; Vanfleteren interessiert sich mehr für die Narben - in Gesichtern ebenso wie an Häuserfassaden. In der Hamburger Galerie Hilaneh von Kories hängen bis zum 3. Februar kommenden Jahres 40 dieser überwiegend großformatigen Exponate.

Viele der Bilder aus "Belgicum" sind Porträts. Nahaufnahmen von verwitterten Gesichtern, manche wirken wie Landschaften. Von Menschen, denen anzusehen ist, dass sie ihr Leben lang hart gearbeitet haben und dass dieses Leben nicht einfach gewesen ist. Vanfleteren schafft es, in die Seelen dieser Menschen zu blicken. Weil sie dem Fotografen vertrauen, lassen sie ihn mit seiner Kamera dicht an sich heran. Ungekünstelt, mit offenem Blick, sehen sie direkt in sein Objektiv. Vanfleteren verleiht diesen Gesichtern eine Würde und Menschlichkeit, die jene, die ihnen im Alltag begegnen, oft nicht mehr zu sehen in der Lage sind. Darunter sind Charakterköpfe wie der in Nieuport aufgenommene Fischer oder der Penner, der Vanfleteren in Antwerpen auf der Straße über den Weg lief. Porträts sind seine große Stärke, vor zwei Jahren hat er einen Fotoband ausschließlich mit Porträts veröffentlicht.

In der Vergangenheit hat Vanfleteren für Tageszeitungen und Magazine in Belgien, Frankreich und Deutschland gearbeitet, in diesem Jahr wurde ihm der bedeutende Henri-Nannen-Preis verliehen. Die Auszeichnung erhielt er für eine Fotoreportage über den Zeichner Tomi Ungerer, der gerade 80 Jahre alt geworden ist. Veröffentlicht wurde sie im Schweizer Magazin "Du".

So wie das Leben tiefe Furchen in den Gesichtern der Porträtierten hinterlassen hat, sind auch viele Ansichten von Städten und Dörfern vom Verfall gezeichnet. Vanfleteren zeigt Häuser, an deren Fassaden verwitterte Inschriften auf vergangenes Leben hindeuten. Früher mal sind Leute in diese Geschäfte und Werkstätten gekommen, um einzukaufen oder eine Arbeit in Auftrag zu geben. Jetzt stehen die Gebäude leer, die Fenster sind vernagelt, vielleicht kommt demnächst der Bagger mit der Abrissbirne. Über diesen verlassenen Orten liegt eine Atmosphäre von Tristesse, von Friedhofsruhe.

Vanfleteren hat seinem "Belgicum" jedoch auch sehr schöne Landschaftsmotive abgewonnen. Über die Bugspitze eines Lastkahns blickt der Betrachter einen schnurgeraden Kanal hinauf, ein anderes Bild zeigt eine einzige, lang gestreckte, sanfte Welle auf dem ansonsten glatten Meer. In solchen Ansichten zeigt sich ein romantischer Blick auf die See - bewusst gesetzter Kontrapunkt des Fotografen zu den vielfach verschandelten Küsten Belgiens, die Vanfleteren in seiner Sammlung ausspart. Der Fotokünstler hat selbst erlebt, wie sich der Lebensraum der Fischer nach und nach in eine Betonwüste verwandelte: "Das neurotische Getue, rasche Fortschritte und drastische Veränderungen machen mich traurig", sagt er.

Vanfleteren hat auch einen Blick für das Skurrile, etwa für das einsam stehende, puppige Haus, in dem man Liebe kaufen kann, oder für den neonerleuchteten Heiligenschein einer Jesus-Statue, der in einem Verkehrsschild wiederkehrt. Ein betagter Radfahrer passiert einen Wegweiser, der die Straße zum geschichtsträchtigen Ort Langemark zeigt, und, gleich darunter, zu einem Ort namens Madonna; ein Mann fotografiert seine Frau in dem Moment, als der Wind ihren weiten Rock anhebt; in einer Kneipenszene winkt ein Paar fröhlich in die Kamera, während vor ihm einem Betrunkenen Speichel und Bierschaum aus dem Mund laufen.

Stephan Vanfleterens Bilder erzählen mehr über die belgische Identität als jede geschönte Hochglanzbroschüre. Mit melancholischem und nostalgischem Blick auf den Alltag, besonders in den ländlichen Gegenden, hält Vanfleteren fest, was bald vergangen sein wird.

Die Menschen und die Gebäude, die er fotografiert hat, sind fast immer alt. Seine Bilder nehmen den Betrachter mit auf eine Reise in die Welt derkleinen Leute, eine Welt, die den Touristen, die sich nur für die Pracht flandrischer Städte interessieren, verborgen bleibt.

"Belgicum" von Stephan Vanfleteren, Galerie Hilaneh von Kories, Stresemannstraße 384 (im Hof), Di-Fr 14.00-19.00