Zwei neue Bücher über Gustav Mahler dokumentieren die Hamburger und Wiener Jahre des großen Dirigenten und Komponisten.

Hamburg. Bei Gustav Mahler fällt vieles größer aus als bei anderen Komponisten. Nicht nur die Symphonien haben XXL-Format, auch die Jubiläen kommen gleich im Doppelpack: 2010 stand der 150. Geburtstag an, 2011 folgte direkt der 100. Todestag. Zwar kann sich die Buchproduktion zu den Mahler-Jubiläen quantitativ nicht mit den Regalmetern an Mozart-Literatur messen, die 2006 herauskam; doch auch die Mahler-Deuter waren fleißig: Die Neuauflage von Jens Malte Fischers Biografie, das Mahler-Handbuch von Bernd Sponheuer und Wolfram Steinbeck oder der von Franz Willnauer edierte Briefwechsel mit Kollegen zählen zum publizistischen Ertrag der nun bald zu Ende gehenden 24 Mahler-Monate.

Einen Schwerpunkt unter den Mahler-Neuerscheinungen bildet Literatur zu dessen Wirkungsstätten. Das Leipziger Gewandhaus hat sich nicht lumpen lassen und dem Maestro, der nur 22 Monate sein Zweiter Kapellmeister gewesen war, einen 360 Seiten starken Sammelband "Mahler in Leipzig" gewidmet. Reinhold Kubik und Helmut Brenner handeln in "Mahlers Welt - Die Orte seines Lebens" gleich alle Mahler-Städte auf 408 Seiten ab.

Hamburg und Wien, die gefühlte und die wahre Mahler-Hauptstadt, sind jeweils mit einem Buch vertreten: Franz Willnauer widmet sich in "Gustav Mahler. Die Hamburger Jahre" dessen Zeit als Erster Kapellmeister am hiesigen Stadttheater. Als Begleitbuch zur Mahler-Ausstellung im Österreichischen Theatermuseum, Wien, entstand der von Reinhold Kubik und Thomas Trabitsch herausgegebene Sammelband mit Ausstellungskatalog unter dem reizvoll ambivalenten Titel: "Leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener - Gustav Mahler in Wien".

Die Stärke von Kubiks/Trabitschs üppig illustriertem Band ist sein Reichtum an Perspektiven. In 30 Beiträgen wird nicht nur Mahlers Leben, von der Studien- über die Hofopern-Zeit bis zu den New Yorker Jahren, sondern auch dessen kulturelles Umfeld und die Rezeption seines Werkes dargestellt. Mahler wird im Zusammenhang mit "seiner" Stadt und seiner Epoche gesehen und unter biografischen, topografischen, soziologischen, politischen und pathologischen Gesichtspunkten unter die Lupe genommen.

An einer Metaphysik des Wienertums versucht Rainer Bischof sich im Beitrag "Mahler und Wien": Ästhetizismus, Fatalismus und ein intimes Verhältnis zu Tod und Morbidität diagnostiziert der Autor bei den Wienern. Wesentlich sachlicher fällt der Beitrag von Werner Hanak-Lettner über "Die Stadt der Immigranten" aus. Die Einwohnerzahl Wiens war im 19. Jahrhundert von 215 000 um 1800 auf 1,8 Millionen im Jahr 1900 explodiert. Das Wien, in dem der böhmische Jude Mahler studierte, war eine Stadt der "Zuagroasten" aus allen Teilen des Vielvölkerimperiums.

Das "kreative Milieu" in diesem "melting pot" beschreibt Emil Brix. Er zeigt Wien als "Welthauptstadt des Geistes", in der die Gedanken reiften, die das 20. Jahrhundert prägten. Dazu zählen nicht nur Psychoanalyse oder künstlerische Moderne; Stalin entwarf hier die Ideologie des Vielvölkerstaates Sowjetunion, wenige Blocks weiter werkelte der verkrachte Kunststudent Adolf Hitler an seinem Weltbild.

Zu diesem Panorama der Stadt Wien kommen Detailstudien zu einzelnen Aspekten von Mahlers Leben: Eine "Spurensuche" listet akribisch jedes Haus auf, das sich mit Mahler in Verbindung bringen lässt. Dessen Studenten-Freundschaften und die Frage, was er in jungen Jahren an der Oper gesehen haben könnte, sind ebenfalls Gegenstand einzelner Essays. Aus Mahlers Zeit als Hofoperndirektor erfährt man einiges Erhellende über sein Verhältnis zu Sängern, über sein dramaturgisches Konzept und seine Kooperation mit Künstlern der Secession wie Alfred Roller. Selbst die Alltagssorgen eines Operndirektors wie die Anschaffung einer 1,5 PS starken Kreissäge für den Einbau einer Drehbühne finden ihren Platz.

Auch der Hamburger Lokalpatriot muss leider eingestehen: Mit dem kulturellen Reichtum Wiens konnte die Kaufmannsstadt sich nie messen. Mahlers Genie als Opern-Reformer hat sich erst in Wien - und in einer Chefposition - wirklich entfalten können. An der Elbe blieb er ein weisungsabhängiger Opern-Malocher. Franz Willnauers Bändchen zu Mahlers sechs Hamburger Jahren (Mahler war von 1891 bis 1897 Erster Kapellmeister, vergleichbar dem Posten des Generalmusikdirektors) fällt entsprechend bescheidener aus.

Als getreuer Chronist, weniger als Deuter, zeichnet der frühere Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals Mahlers unglaublich arbeitsreiche Zeit, die Querelen mit dem Direktor und seine privaten Kontakte und Freundschaften nach. Objektiv, ohne seinen Helden zu denunzieren oder zu verklären, schildert er auch die heiklen Aspekte von Mahlers Charakter und Werdegang: die zerbrochene Freundschaft zum Musikkritiker Ferdinand Pfühl oder die strategische Art, wie der ehrgeizige Musiker für die Aussicht auf den Posten in Wien Religion und Geliebte ablegte.

Für lokalpatriotische Mahler-Einsteiger ist also Willnauers biografischer Abriss das Buch der Wahl; kulturhistorisch interessierte Mahler-Enthusiasten werden sich eher an den Sammelband von Reinhold Kubik und Thomas Trabitsch halten.

"Gustav Mahler. Die Hamburger Jahre", Franz Willnauer, Hoffmann und Campe, 128 S., 12 Euro

"Leider bleibe ich ein eingefleischter Wiener. Gustav Mahler in Wien", Reinhold Kubik/Thomas Trabitsch (Hrsg.), Brandstätter, 400 S., 39,90 Euro