Wie gut ist das Benehmen der Deutschen? Stirbt der Gentleman aus? Antworten gibt der “Trendcheck Manieren“ - in einer bundesweiten Studie.

Es ist davon auszugehen, dass seine Manieren tadellos waren. Schließlich war er Freiherr und kannte sich an deutschen Höfen bestens aus, wenn er selbige auch verachtete. Doch Benimmregeln wie etwa, zu welchem Gang welches Besteck benutzt wird, hatte Adolph Freiherr von Knigge nicht im Sinn, als er sein berühmtestes Werk "Vom Umgang mit Menschen" 1788 schrieb. Ihm ging es vielmehr im Sinne der Aufklärung um zwischenmenschliche Umgangsformen, also um die Lehren von den Pflichten, "die wir allen Arten von Menschen schuldig sind und wiederum von ihnen fordern können".

Der Freiherr wäre wohl auch heute noch ein guter Ratgeber in der Frage, was gutes Benehmen und Manieren eigentlich sein sollten - "konventionelle Höflichkeitsformeln" oder Etikette waren sie für ihn jedenfalls nie.

In Deutschland steht es schlecht um das eine wie das andere. Den Eindruck zumindest kann man gewinnen, schaut man sich die Fülle an Benimm-Büchern an, die für jegliche Lebenslage vom Umgang mit Chefs bis zum Chat im Internet alljährlich die Verlagsprogramme füllt.

Aussagefähige Daten liefert nun eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag von Jacobs Krönung in einem "Trendcheck Manieren". Mehr als 1800 Frauen und Männer über 16 Jahren wurden dafür bundesweit befragt. Tatsächlich haben demnach die meisten Deutschen den Eindruck, dass es nicht sonderlich gut steht um unsere Umgangsformen, 61 Prozent sind der Meinung, dass es weniger Benimmregeln gibt als früher - und die Mehrzahl empfindet dies als Verlust und nicht etwa als einen Freiheitsgewinn.

Beim Berufsstart sollte man die Regeln kennen

Studie aus Harvard: Affenkinder sind wir

Zwar wird das auch von jüngeren Generationen so gesehen, am häufigsten allerdings von den ab 60-Jährigen - was nicht wirklich überrascht. "Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität", verkündete bereits Sokrates - ein Lamento, das offenbar von Generation zu Generation weitergereicht wird.

Doch interessanterweise ist entgegen der verbreiteten Klage über den Verfall der Umgangsformen ihre Akzeptanz in den meisten Fällen nicht gesunken. Zu beobachten ist stattdessen eher ein Wandel in der Wertigkeit derselben. So haben manche konventionellen Höflichkeitsregeln an Bedeutung verloren - etwa, dass ein Mann der Frau an der Tür den Vortritt lässt, dass man bei einer Einladung Blumen mitbringt oder geliehene Bücher sorgfältig behandelt. Auch Beleidigungen wie etwa, einem anderen Autofahrer einen Vogel zu zeigen, werden als nicht mehr so schlimm angesehen wie noch vor 15 Jahren. Vielleicht auch, weil es inzwischen drastischere Handzeichen gibt. An einigen Verhaltensweisen stören sich vor allem ältere Menschen, wie etwa Kaugummikauen während einer Unterhaltung (80 Prozent).

Eine ganze Reihe anderer "traditioneller" Benimmregeln hat hingegen heute nahezu die gleiche, in Einzelfällen sogar eine höhere Akzeptanz als noch vor 15 Jahren - und zwar altersübergreifend: So halten es die allermeisten Deutschen für schlechtes Benehmen, wenn sich jemand in einem Geschäft vordrängelt, wenn junge Menschen im Bus nicht für ältere aufstehen und wenn jemand mit vollem Mund spricht. Die Hälfte hält es für unangemessen, wenn Eltern ihre lauten Kinder im Restaurant nicht ermahnen (1997 waren es nur 39 Prozent).

Ist also der Verfall der Sitten nur eingebildet? "Die Verhaltensregeln sind auch heute klar", sagt Renate Köcher, Geschäftsführerin des Allensbach-Instituts. "Was sich aber verändert hat, ist die Toleranz gegenüber Verstößen: Wer sich schlecht benimmt, muss kaum mit Empörung oder gar Sanktionen rechnen." Die fehlende Ächtung von rüpelhaftem Verhalten könnte also erklären, warum so viele den Eindruck haben, dass gutes Benehmen immer seltener wird.

Dass dies tatsächlich der Fall ist, lässt sich dagegen schwer nachweisen. Einiges spricht jedoch dagegen. Denn fast jedem ist anständiges Verhalten anderen gegenüber nach eigenem Bekunden wichtig. 40 Prozent der erwachsenen Bevölkerung legen auf gutes Benehmen sogar ganz besonderen Wert, weitere 53 Prozent legen darauf Wert, auch wenn sie die Wichtigkeit nicht ganz so betonen.

Selbst das Internet und soziale Netzwerke im Web sind entgegen der öffentlichen Wahrnehmung bei Weitem keine Benimm-freien-Zonen. Zwar ist der Umgangston locker, korrekte Interpunktion und Rechtschreibung werden vielfach ignoriert, doch gutes Benehmen wird auch hier erwartet - und zwar auch von "digital natives", also jungen Menschen, die bereits mit dem Internet aufgewachsen sind: 64 Prozent der 16- bis 29-Jährigen halten es etwa für ein Zeichen von schlechtem Benehmen, Fotos von anderen ins Internet zu stellen oder weiterzugeben, ohne das Einverständnis der Abgebildeten (66 Prozent der über 60-Jährigen) dafür zu haben.

Auch ständig auf das Handy schauen während einer Besprechung oder eines Essens hält fast die Hälfte der unter 30-Jährigen für nicht angemessen. Generell legt die Generation Internet mit großer Mehrheit Wert auf gutes Benehmen - und unterscheidet sich darin nicht von denjenigen unter 30-Jährigen, die selten bis kaum das Internet benutzen.

Wie sich die Bedeutung einzelner Umgangsformen gewandelt hat, lässt sich besonders gut an den sogenannten "Gentleman-Qualitäten" ablesen. Barbra Streisand soll einmal gesagt haben, dass "heutzutage ein Mann schon als Gentleman gilt, wenn er die Zigarette aus dem Mund nimmt, bevor er eine Frau küsst". Zumindest bei der Hälfte der Deutschen dürfte sie damit auf Zustimmung stoßen.

Sowohl bei Männern wie Frauen teilen sich nämlich diejenigen, die das Verhalten eines klassischen Gentlemans noch für zeitgemäß halten oder eben nicht, in etwa gleich große Lager. Interessant ist hierbei jedoch, dass 59 Prozent der unter 30-Jährigen "Gentleman"-Regeln wie einer Frau die Tür aufhalten, ihr in den Mantel helfen oder den Stuhl zurechtrücken für "nicht mehr zeitgemäß" halten.

Aussterben wird der Gentleman dennoch nicht: Die überwiegende Mehrheit der jüngeren Frauen begrüßt es durchaus, wenn ihr ein Mann bei Kälte den Mantel anbietet oder für sie schwere Dinge trägt. Und wer beim Kennenlernen die Initiative ergreifen sollte, ist sogar bei den unter 30-Jährigen noch immer eindeutig: der Mann. Pragmatismus scheint also starre Gentleman-Regeln abgelöst zu haben.

Dass Singles Höflichkeitsregeln im Umgang zwischen Männern und Frauen für relevanter erachten (51 Prozent halten diese für zeitgemäß) als Paare (40 Prozent), bestätigt, was Beziehungsratgeber schon lange Zeit wussten: Verheiratete werden eher schludrig, wenn es um den höflichen Umgang miteinander geht - auch wenn das nicht unbedingt beziehungsfördernd ist.

Ein deutlicher Wandel ist auch bei der Anrede zu beobachten. Zwar ist der Anteil der Bevölkerung, der generell schnell zum Du übergeht, in den letzten Jahrzehnten konstant bei 25 bis 30 Prozent geblieben. Doch hat die Bereitschaft, selektiv zum Du überzugehen, merklich zugenommen (2011: 48 Prozent, 1974: 34 Prozent), und immer weniger Deutsche haben generell Vorbehalte gegen das Duzen (2011: 26 Prozent, 1974: 41 Prozent). Gegen eine generelle Abschaffung des Sie sprachen sich jedoch fast zwei Drittel der Deutschen aus.

Auffällig ist die Veränderung, die bei der Begrüßung stattgefunden hat. 58 Prozent der Bevölkerung und gar drei Viertel der unter 30-Jährigen begrüßen gute Bekannte zumindest ab und zu mit Wangenkuss - einem Begrüßungsritual, das ursprünglich aus Frankreich stammt. Vor rund 30 Jahren waren das nur 35 Prozent der Gesamtbevölkerung und 42 Prozent der unter 30-Jährigen. Interessant hierbei ist aber auch, dass der Anteil derjenigen, die diese Begrüßungsform zumindest manchmal praktiziert, deutlich höher ist als der Anteil derjenigen, die es ausdrücklich mögen, sich so zu begrüßen. Viele beugen sich hier offenbar dem sozialen Druck.

Das wiederum deutet darauf hin, dass Umgangsformen sich zwar wandeln, aber immer noch das Zusammenleben in unserer Gesellschaft stark prägen. Von einem Verfall der Manieren kann nach der Allensbach-Studie zumindest nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Die große Mehrheit der Deutschen legt sogar explizit Wert darauf und fühlt sich von Rücksichtslosigkeit, Unzuverlässigkeit und Egoismus gestört. Nur was konkret gutes Benehmen ist, befindet sich zum Teil im Wandel. Und dagegen hätte der Freiherr von Knigge wohl kaum etwas einzuwenden gehabt - solange es nur einem respektvollen Miteinander dient.