Wer hat die Werke von Shakespeare wirklich geschrieben? Regisseur Roland Emmerich zeigt mit “Anonymus“ eine lustvolle Spekulation.
Hamburg. Mit weit ausgebreiteten Armen steht er auf der Bühne, bereit, den Raum auszufüllen und noch viel, viel mehr Applaus zu empfangen. Dieser William Shakespeare ist kein sonderlich attraktiver Mann, ein bisschen schmuddelig, unordentlich und ohne Kostüm auch nicht strahlend. Er beherrscht zwar die große Pose, aber kann er auch schreiben? Ist er überhaupt der Verfasser berühmter Shakespeare-Dramen - oder ist er vielleicht doch nur der Strohmann für einen anderen?
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Roland Emmerich, bekannt als "Master of Desaster", hat in "The Day After Tomorrow" oder "2012" schon zweimal die bekannte Welt zerlegt. In "Anonymus" lässt er jetzt Großbritanniens weltberühmten Dichter zwar nicht untergehen, aber er kratzt an dessen Legitimation. Das ist ja auch fast ein Weltuntergang.
Wer William Shakespeare war, erfährt der Zuschauer zu Beginn des Films im "Prolog", gespielt von Derek Jacobi. Er lobt Shakespeare, nennt ihn "die Seele des Zeitalters". Der Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford-upon-Avon hat nur einfache Schulbildung, geht nach London, wird Schauspieler, Autor und stirbt mit 52 Jahren. Aber dann berichtet "Prolog" von den Zweifeln, dass Shakespeare die 37 Theaterstücke und 154 Sonette tatsächlich selbst geschrieben hat. "Lassen Sie mich Ihnen eine andere Geschichte erzählen", sagt er, "eine dunklere Geschichte von Federkielen und Schwertern. Von Macht und Betrug. Von einer Bühne, die erobert, und einem Thron, der verloren wurde. "
Jacobis "Prolog" ist eine geschickte Einführung, denn er transportiert Informationen zum Thema, und vor allem ist Jacobi selbst ein gefeierter Shakespeare-Darsteller. Der Prolog, der in einem modernen Theater spielt, spannt den Bogen vom Film zur Bühne, von der Gegenwart in die Vergangenheit. Dieses didaktische Element hat sich Roland Emmerich bei Kenneth Branaghs Shakespeare-Verfilmung von "Henry V" abgeschaut, in der ebenfalls Jacobi den "Chor" spielt, aber auch bei einem einheimischen Klassiker: "Ich komme nun mal aus Deutschland, und Bertolt Brecht hat viele solche Sachen gemacht", sagt Emmerich. "Er hat das allerdings wiederum von Shakespeare gelernt."
Die "andere Geschichte", die der Film erzählt, ist die des Edward de Vere, Earl of Oxford, einer historischen Figur. Als Aristokrat, argumentiert Emmerich, durfte der Earl nicht als Autor von Theaterstücken in Erscheinung treten. Er sei der Ghostwriter für Shakespeare gewesen, der im Film nur ein Schauspieler ist und außerdem ein ziemlich windiger Typ.
Literaturwissenschaftlern sind solche Spekulationen längst bekannt. Knapp 60 "wahre Shakespeares" wurden im Laufe der Zeit gehandelt. Hintergrund waren die Zweifel, wie Shakespeare - Sohn eines Analphabeten aus einem Haushalt ohne Bücher und mit überschaubarer Schulbildung ("wenig Latein und noch weniger Griechisch") - so viel Wissen und Kenntnisse anhäufen und so elegant umsetzen konnte. Also schossen die Spekulationen ins Kraut: Francis Bacon, Shakespeares Ehefrau Anne Hathaway oder gar Queen Elizabeth selbst hätten angeblich die Texte geschrieben. Oder eben der Earl of Oxford. An den Spekulationen beteiligten sich Prominente wie Henry James, Mark Twain, Sigmund Freud, sogar Otto von Bismarck.
"Die Gerüchte, dass ein anderer Shakespeares Stücke geschrieben hat, sind alt", sagt der Hamburger Shakespeare-Experte und Anglistik-Professor Norbert Greiner. Es gebe über Shakespeares Autorenschaft nicht viele, aber ausreichend Belege. Warum also immer wieder die Verschwörungstheorien? "Man kann damit Schlagzeilen machen", meint Greiner. Er ist selbst Autor von Büchern über Shakespeares Stücke. 2010 beschrieb er "Hamlet" in einem Aufsatz als überschätztes Kunstwerk - was ihn nicht davon abhält, mit den University Players im Januar in Hamburg den "Hamlet" zu inszenieren. Er glaubt, dass Shakespeare trotz seiner einfachen Bildung ein Autodidakt mit großem Abstraktionsvermögen war.
Der Autor und Dramaturg Kurt Kreiler hingegen wirft sich gerade in seinem Buch "Der Mann, der Shakespeare erfand" wieder für den Earl of Oxford in die Bresche. Und nun Emmerich - jedenfalls ein bisschen: "Ich bin nicht völlig überzeugt, dass es Oxford war, aber er ist derjenige, der am ehesten infrage kommt", befindet der Regisseur werbewirksam, aber auch vorsichtig.
Zu spät: Das Porzellan ist zerschlagen. "'Anonymus' ist eine Beleidigung eines großen Naturtalents. Der Film kann unser Verhältnis zu unserem Nationalgenie nur beschädigen und herabstufen", beklagte sich der Kultur-Blogger Jonathan Jones im "Guardian". Michael Dobson vom Birkbeck College der University of London beschimpfte den Filmemacher kürzlich bei einer Diskussion erbost als "B-Movie-Regisseur". Emmerich sieht die Kontroverse gelassen: "Ich habe gedacht, bekommt jetzt bloß keinen dicken Hals. Die Frage wird ohnehin nicht hier und jetzt gelöst. Ich finde solche Diskussionen aber gut. Das ist genau das, was ich wollte." Immerhin schaffte "Anonymus" es am Startwochenende in Großbritannien auf Platz 13 der Kinocharts.
Die Frage, ob nun die Stratfordianer oder die Oxfordianer recht haben, ist eigentlich nur der Aufhänger für "Anonymus". Der Film ist mehr als ein Krimi um wahre Autorenschaft. Er erzählt vor allem, welche Intrigen am Hofe von Queen Elizabeth I. um ihre Nachfolge toben. Emmerich wollte auch ein menschlich-künstlerisches Drama beleuchten: Ein talentierter Mensch darf seine Arbeit veröffentlichen, aber nicht seinen Namen draufschreiben.
Das Design seiner Filme war Emmerich oft wichtiger als die Charaktere. Hier aber zeichnet er mit großem Aufwand ein saftiges Sittenporträt der englischen Gesellschaft vor mehr als 400 Jahren - mit Intrigen, Verrat, Sex und Enthauptungen. Zum ersten Mal seit 20 Jahren drehte er dafür wieder in Deutschland. Auf dem Gelände des Studios Babelsberg ließ er ein elisabethanisches Theater nahezu maßstabsgetreu nachbauen. Von den Original-Theatern The Rose und The Globe stehen heute in London nur noch die Fundamente. Die aktuelle Theaterkulisse bespielte Emmerich an 63 Drehtagen mit 59 Sprechrollen und 8400 Komparsen.
Und mit hochkarätigem Ensemble. Rhys Ifans spielt den Earl of Oxford, Vanessa Redgrave ist als alte Elizabeth, ihre Tochter Joely Richardson als junge Königin zu sehen. Am Computer wurden noch einmal 20 000 virtuelle Darsteller hinzukomponiert. Man sieht sie in einer der spektakulärsten Szenen, wenn nämlich nach dem Tod der Königin Tausende Menschen ihren Trauerzug auf der zugefrorenen Themse begleiten. Sie ist allerdings auch zu schön, um wahr zu sein: Bei Elizabeths Tod 1603 war der Fluss nicht zugefroren.
Kostümbildnerin Lisy Christl gab sich bei ihrer Arbeit das Motto "Macht durch Mode". Die Kostüme der Herrschenden gestaltete sie nach historischen Gemälden und musste dabei streng auf die Farbwahl achten: Schwarz, Rot und Grün waren damals nur Adligen vorbehalten. Für die Titelrolle hatte sie außerdem ein ungewöhnliches aktuelles Vorbild. "Für mich ist Karl Lagerfeld mit seinen engen, hohen Kragen ein moderner Earl of Oxford", so Christl.
Aber es geht nicht nur um Pracht. Emmerich zeigt auch den allgegenwärtigen Dreck im 16. Jahrhundert, die grotesk dick aufgetragene Schminke und die wenig königlichen gelblichen Zähne der alternden Monarchin. Und natürlich gibt es auch Kostproben der Kunst Shakespeares oder Oxfords oder wer auch immer der wahre Autor war. Im Film sind Ausschnitte von acht Werken zu sehen von "Romeo und Julia" über "Macbeth" bis "Hamlet".
Man könnte denken, bei Emmerich habe sich hier eine lange verborgene Shakespeare-Leidenschaft Bahn gebrochen. Aber das stimmt so nicht. Zu Schulzeiten hat sich der Schwabe für ganz andere Texte interessiert, wie er sagt: "Man bekommt da ja Schiller und Goethe reingedrückt, aber das hatte nicht viel mit meinem Leben zu tun. Ich habe mich damals für jüngere Literatur wie die von Hubert Selby und James Baldwin interessiert, aber auch für Thomas Mann und Hermann Hesse." Erst später machten ihn Shakespeare-Verfilmungen neugierig. Von Shakespeares Sonetten schwärmt der 55-Jährige: "Die sind unglaublich."
Seinem Hauptdarsteller ging es mit dem Klassiker in der Schule ganz ähnlich. "Shakespeare muss man zuerst sehen und hören, nicht lesen", findet der Waliser Ifans, der seinen Durchbruch als schräger Mitbewohner von Hugh Grant in "Notting Hill" schaffte.
Shakespeares Stücke bestechen seit Jahrhunderten durch ihre schöne Sprache, den klugen Aufbau und das Wissen um menschliche Stärken und Schwächen. Das ist universell verständlich und weder an Zeit noch Ort gebunden. Die Frage nach dem Autor tritt dahinter zurück. So sieht es auch Professor Norbert Greiner. Er findet Emmerichs Ansatz dennoch legitim. "Solche Filme sind hilfreich, denn sie wecken das Interesse an Shakespeare. Das kann uns doch nur recht sein."
"Anonymus" läuft im Abaton, Cinemaxx, Koralle, Passage, Streit's, UCI Othmarschen-Park und Smart-City. Eine Kritik lesen Sie in Hamburg LIVE auf Seite 11.
Buch zum Film: Christopher Measom (Hg.). "Anonymous. William Shakespeare Revealed". Newmarket Press, 168 Seiten, 23,85 Euro
Kurt Kreiler: "Der Mann, der Shakespeare erfand. Edward de Vere, Earl of Oxford". Insel Verlag, 595 Seiten, 12,95 Euro