Ob Krankheit, Kleinkriminalität oder Klavierrestauration - beim Filmfest gibt es Werke, die wahrhaftig bewegen, amüsieren und verführen.

Hamburg. Erzähl mir eine Geschichte. Ich verlange nicht, dass sie wahr ist. Aber du sollst dabei auch nicht lügen. Bring mich zum Lachen, meinetwegen auch zum Weinen. Aber dann muss deine Geschichte ehrlich sein und tief. Vor allem: Verführ mich - mit deiner Stimme, deinem Sound, deinen Bildern. Im Kino gehen einem solche Bitten durch den Kopf, ehe der Film beginnt. Man sieht die Leute reinkommen, Brauseflasche, Candytüte, Handy in der Hand. Man hört sie reden über ihre Pläne für morgen oder ihre Erlebnisse von heute. Und man fragt sich: Warum sind wir jetzt hier, was verbindet uns im Saal, weshalb ziehen wir ein Dunkel der Sonne vor? Nur deswegen: Weil das Kino das Versprechen auf eine Geschichte abgibt, immer wieder.

Eine halbe Stunde später sagt im Film der siebenjährige Otto, der seine Bücher alphabetisch geordnet hat, zum Überraschungsbabysitter Juliane (Nina Hoss) genau diesen Satz: Erzähl mir eine Geschichte. Eine von dir, als du noch klein warst. Juliane überlegt und beißt sich auf die Lippen, und schließlich erzählt sie dem Kind ihr Riesendilemma von heute, als wär's eine Geschichte von damals. Wie sie aufgewacht ist eines Morgens in einem Tag in ihrem Leben, der schon Monate zurücklag.

Genau das ist dieser jungen Frau gerade passiert. Der neue Freund August (Mark Waschke), mit dem sie im Sommer nach Finnland fährt und der das Zeug zur großen Liebe hat: weg. Stattdessen ist wieder Februar in Berlin, der andere ist da, der, von dem sie sich nach neun Jahren endlich trennen wollte. Und, was ihr den größten Schrecken einjagt: ihre Freundin Emily (Fritzi Haberlandt), die im Mai von einem Laster überfahren wurde, ist wieder am Leben. Was jetzt? Wie sichergehen, dass sie auch in der unfreiwillig wiederholten Lebensspanne August kennenlernt? Und wie das Unglück verhindern?

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Hendrik Handloegtens "Fenster zum Sommer", der am Sonntag beim Filmfest Hamburg Deutschland-Premiere hatte, verhandelt das Lebensthema Schicksal und Bestimmung, und er zeigt an der von Nina Hoss glänzend verkörperten Hauptfigur zweierlei: dass es das Vermögen des Menschen überfordert, die Fäden der eigenen Geschichte in der Hand zu behalten, und dass es dazu trotzdem keine Alternative gibt. Juliane nutzt die Chance des zweiten Versuchs. In der Freiheit zur Entscheidung wächst ihre Fähigkeit zur Verantwortung (Do 6.10., 17.00, Metropolis).

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Mit sicherem Gespür dafür, welche Film-Geschichten den Menschen am tiefsten treffen, weil sie wahrhaftig sind und großartig erzählt, erkannte Filmfest-Chef Albert Wiederspiel in diesem Jahr dem Regisseur Andreas Dresen und seinem langjährigen Produzenten Peter Rommel den Douglas-Sirk-Preis des Filmfests zu. Ihr Film "Halt auf freier Strecke" über das Sterben eines Familienvaters zur Unzeit ist ein großes Werk. Es veranlasste die Laudatoren Barbara Kisseler und Joachim Gauck vor der Preisverleihung am Sonnabend im Cinemaxx zu starken Reden. Dann lief der Film. So still hat man den ausverkauften Saal noch nie erlebt.

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Eine immer wieder aufs Neue erzählte Geschichte - im Kino wie im Leben - ist die um die Irrungen und Wirrungen der Liebe. Doch so charmant und turbulent wie in "Madly In Love" wurde das Cineasten-Herz schon lange nicht mehr hineingewirbelt in einen Beziehungsreigen. Die Frauen, die in dem Mehr-Generationen-Haushalt um Aktrice Judith (Veerle Dobbelaere) ihr amouröses Auf und Ab zelebrieren, sind aber auch wirklich zu entzückend und verrückt. In ihrer Heimat Belgien ist Hilde van Mieghems Komödie "Smoorverliefd", so der Originaltitel, bereits ein Hit (heute, 19.00, Passage Studio).

Ebenfalls ein nationaler Kinoerfolg ist die dänische Kleinganovenkomödie "All For One", die wie "Madly In Love" in der "Eurovisuell"-Reihe zu erleben ist. In einem Mix aus "Ocean's Eleven" und der "Olsen-Bande" versuchen vier Kindheitsfreunde, den großen Fischen (und der Polizei) eins auszuwischen. Wer sich schon länger beim Lachen nicht mehr auf die Schenkel geklopft hat, dürfte mit dem kalauernden Film von Regisseur Rasmus Heide bestens bedient sein (heute, 19.15, Cinemaxx 2).

Das Filmfest mit seinem Angebot von 150 Leinwand-Geschichten kann den Zuschauer durchaus in ein Wechselbad der Gefühle führen. Die eine Story amüsiert bis in den Bauch, die andere erschüttert bis ins Mark. Mitunter finden sich derlei Effekte aber auch in ein und demselben Film. So zum Beispiel in "Restless".

Jeder Tag ist für Annabel (Mia Wasikowska) ein neues Geschenk, das sie mit Lebenslust, Energie und einem großen Faible für Vogelkunde annimmt. Denn Annabels Tage sind gezählt. Ein Tumor zerstört das Gehirn des Mädchens. Enoch (Henry Hopper) hat die erste Todeserfahrung bereits hinter sich. Drei Monate lag er nach einem Unfall im Koma, seine Eltern überlebten nicht. Die jungen Leute begegnen sich bei einer Beerdigung, fühlen sich zueinander hingezogen und verbringen die letzten Wochen bis zu Annabels Tod miteinander. Regisseur Gus Van Sant ("Milk") erzählt diese Romanze im Angesicht des Todes völlig unsentimental und mit sehr viel Humor (heute, 19.00, Abaton; 8.10., 22.30, Cinemaxx).

Ein Dreiecksverhältnis hingegen bestimmt Joseph Madmodys Film "Restoration". Doch es geht nicht um einen Mann zwischen zwei Frauen oder vice versa, sondern um einen Vater zwischen zwei Söhnen. Yaakov Fidelman, ein Möbelrestaurator in Tel Aviv, steuert mit seinem Laden in die Pleite. Sein leiblicher Sohn Noah verweigert ihm Hilfe, ein Fremder namens Anton stürzt sich bei Yaakov jedoch in die Arbeit und könnte das Geschäft mit der Restaurierung eines alten Steinway-Klaviers retten (heute, 21.15, Cinemaxx). Eine Familiengeschichte, die nicht lügt, sondern hält, was sie verspricht.