151 Produktionen beim Filmfest Hamburg. Leiter Albert Wiederspiel wartet noch auf die versprochene Unterstützung der Kultursenatorin.

Hamburg. Für den Mut des Albert Wiederspiel muss das passende Beiwort noch gefunden werden. Ist es der Mut des Tapferen, des Trotzigen oder einfach des wachen Zeitgenossen, der ihn bewog, das in zwei Wochen beginnende Filmfest Hamburg mit dem iranischen Film "Auf Wiedersehen" zu eröffnen?

Traditionell ist jeder Intendant eines Filmfestivals gut beraten, zum Auftakt von der Leinwand aus im Saal für gute Laune zu sorgen, für Spaß, Spiel, Spannung. "Aber ich hatte in diesem Jahr überhaupt keine Lust auf eine nette Komödie", sagt Wiederspiel. "Die Welt ist zerrüttet, wir erleben Revolutionen und globale Finanzkrisen." Wie für jeden Cineasten ist auch für ihn das Kino viel mehr als nur eine Zufluchtsstätte vor der Wirklichkeit, in der man sich ein paar schöne Stunden macht. Zur Ouvertüre des neunten von ihm verantworteten Filmfests mutet er seinem Publikum nun nicht weniger zu als den Ernst der Welt. "Auf Wiedersehen" von Mohammed Rasoulof erzählt in bestürzend schönen Einstellungen von einem Frauenschicksal in der iranischen Diktatur. Der Film, der auf den Filmfestspielen in Cannes im Mai seine Uraufführung erlebte, ist schwer, er ist unglamourös, wahrhaftig und auf subtile Weise beklemmend. Die Kopie wurde ins Ausland geschmuggelt, Rasoulof aber scheint reisen zu dürfen. Wiederspiel ist deshalb zuversichtlich, dass er den Regisseur und seine Hauptdarstellerin Leyla Zareh zur Premiere in Hamburg begrüßen kann.

+++ Höhepunkte des Filmfests +++

+++ Iranischer Spielfilm eröffnet Filmfest Hamburg +++

Man sieht es dem kleinen Herrn mit den Maßen eines Bonvivants nicht an, aber in beruflicher Hinsicht beweist er auch den Mut des Schmalhans als Küchenmeister. "Ich habe schon gestaunt, als der bisherige Chef des Münchner Filmfests, Andreas Ströhl, sich jetzt mit dem Argument aus der Leitung verabschiedet hat, mit 1,5 Millionen Euro könne man kein Festival machen." Ihm selbst steht weniger als die Hälfte dieses Budgets zur Verfügung. Wiederspiels Jahresetat liegt unverändert seit 2008 bei 650.000 Euro, von denen alles bezahlt werden muss - Gehälter, Büro- und Kinomieten (nur die Säle des Cinemaxx darf das Filmfest umsonst nutzen), Technik, nicht zuletzt Reisekosten für Regisseure und Schauspieler, ohne deren Anwesenheit ein Festival seinen Namen nicht verdient. "Und weil wir nicht die Nordischen Filmtage sind, kommen unsere Gäste nicht nur aus Kopenhagen oder Stockholm", seufzt Wiederspiel. Der Filmfest-Chef wartet auf ein Signal, das den Worten der Kultursenatorin Barbara Kisseler, das Filmfest müsse qualitativ und quantitativ gestärkt werden, Taten folgen lässt.

Trotzdem gelang ihm mit seinem kleinen Team auch dieses Jahr wieder das Kunststück, ein Fest auf die Beine zu stellen, das sich sehen lassen kann. Aus der Flut der weltweiten Filmproduktion fanden 151 Streifen ins Programm, das in elf Sektionen unterteilt ist. Zwei davon sind neu: die mit sechs Filmen sehr schlank geratene Sektion "Musik!" und eine etwas opulentere Serie mit Filmen über Paris aus den Jahren zwischen 1938 und 2007, "Eyes on Paris". Sie entstand in Zusammenarbeit mit den Deichtorhallen, die die meistfotografierte Stadt der Welt zeitgleich mit einer gleichnamigen Fotobuch-Ausstellung würdigen.

In der Sektion "Nordlichter", die ausschließlich Filme von Regisseuren aus Hamburg und Schleswig-Holstein enthält, laufen gleich zwei Dokumentarfilme zum Thema FC St. Pauli: "Das ganze Stadion" zeigt über die komplette Länge eines Fußballspiels nichts anderes als die Zuschauer, in "Vom Kiez zum Kap" begleitet Joachim Bornemann mit der Kamera eine Gruppe von St.-Pauli-Fans, die im Bus von Hamburg zur Fußball-WM nach Südafrika 2010 reist.

Weltläufigkeit stellen die Sektionen "Agenda 11", "Eurovisuell", "Vitrina" und "Voilà!" sicher. Die "Deluxe"-Reihe widmet sich diesmal Filmen aus Island, einem Inselreich, das Wiederspiel auch als Privatmensch gern bereist. Die Filmproduktion des Landes mit 300 000 Einwohnern setzte erst Ende der 70er-Jahre ein. Von den seither entstandenen rund 300 Filmen, deren Kopien überall auf der Welt verstreut liegen - Island hatte nie ein eigenes Kopierwerk -, zeigt das Filmfest neun beispielhafte Werke. In "Drei Farben Grün" laufen zehn Dokumentarfilme zum Thema Ökologie, wobei der deutsch-türkische "Ecumenopolis - City without Limits" über die brutale Stadtplanungspolitik von Istanbul den hiesigen Gentrifizierungsstreit zur Luxusdebatte schrumpfen lässt. Das Michel Kinder- und Jugendfilmfest zeigt neun Produktionen und bietet mit Hermine Huntgeburths an der Havel gedrehtem "Tom Sawyer" einen mit Heike Makatsch, Benno Fürmann, Joachim Król und Peter Lohmeyer prominent besetzten Eröffnungsfilm. 15 Uraufführungen werben in der Sektion "16:9" um Zuschauer, die Fernsehfilme gern zuerst auf der Kinoleinwand sehen, darunter gleich zwei "Tatorte".

Mit seinem Themenschwerpunkt "Macht" stärkt Wiederspiel den Mut des David gegen den Goliath von Technokraten, Bürokratie und anonymen Schicksalsentscheidern an den Schaltstellen der Macht. "Als ich den französischen Film 'L'exercise de l'état' gesehen habe, eine unglaubliche Farce über einen fiktiven Transportminister, habe ich zum ersten Mal begriffen, von wem wir eigentlich regiert werden", sagt Wiederspiel. Acht Filme ordnet er diesem gedanklichen roten Faden zu - und hätte doch auch als neunten schon den Eröffnungsfilm nennen können. Denn ohne die Ohnmacht der vielen macht die Macht der wenigen ja keinen Spaß.