Vor 50 Jahren erschoss sich Ernest Hemingway in Idaho. Die Faszination für seine Selbstinszenierung hat ihn überlebt. Warum er heute noch gelesen wird.

Für das Gestrampel heutiger Politiker vor Kameras, Mikrofonen und dem Internet hätte er garantiert nur Verachtung übrig. Sollen sich andere die Finger an solchen Selbstdarstellern schmutzig machen. "Verwechsle nie Bewegung mit Handeln", hatte er schon vor Jahrzehnten gewarnt. Vielleicht hätte ihn auch ein Sender als Kriegsberichterstatter in die Straßenkämpfe Libyens geschickt, zu den Aufständischen nach Syrien oder in den Slum-Moloch von Kairo. Damit er erzählt, was Revolutionen aus ihren Helden, Tätern und Opfern machen können. Er hätte, fast zehn Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center, auch aus Pakistan berichten wollen, wo eine US-Spezialeinheit Osama Bin Laden zur Strecke gebracht hat. Die Helden aus den Reaktorruinen von Fukushima, die dort tun, was Männer in solchen Situationen tun müssen? Männer ganz nach seinem Geschmack.

Die bewegten Zeiten, in denen wir leben, wären großartige Zeiten für einen Schreiber wie Ernest Hemingway. Seine Themen lägen buchstäblich auf der Straße. Wenn es einen wie ihn noch gäbe, um sie gut aufzuheben.

Es wäre interessant zu erfahren, ob sich Hemingways Bücher, die atmosphärisch dichten Romane und die prägnanten frühen Kurzgeschichten, in Griechenland, Irland oder Spanien gut verkaufen, in diesen Tagen des epochalen Zweifelns und der unberechenbaren Risiken. Ob man ihn dort wieder liest, ob man ihn mit anderen Augen sieht.

"Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben." Einer dieser universalen Klassiker von ihm aus "Der alte Mann und das Meer", sein bekanntestes Werk, aber keines seiner besten. Ein Fischer, allein auf hoher See, kämpft darin chancenlos gegen das Schicksal, das in der Gestalt hungriger Haie große Brocken aus seiner Existenz frisst. Wie klingt dieser philosophierende Satz, einer wie aus dem Werk von Sartre oder Camus, als Kapitalismuskritik in den Ohren von Menschen, denen der Boden unter den Füßen durch globalisierte Gier weggezogen wurde? Wie wirkt er in Nationen, die von Finanzhaien umkreist werden? Volkswirtschaften, denen fast schon die letzte Stunde geschlagen hat, mussten erleben, wie schwer es ist, um jeden Preis "grace under pressure" zu bewahren; anmutig zu bleiben trotz des Drucks.

Moralisch sei das, wonach man sich gut, und unmoralisch das, wonach man sich schlecht fühlte, brachte er 1932 im Stierkampf-Essay "Tod am Nachmittag" als Lebensregel zu Papier. Genau die richtige Lektüre für Hedgefonds-Manager, die zum Zocken mit dem Geld anderer neigen. Als Hemingway 1937 einen Roman über einen Skipper in Key West schrieb, gab er ihm den Titel "Haben und Nichthaben".

Als Ernest Hemingway, krank und nur noch ein depressiver Schatten seiner selbst, am 2. Juli 1961 seinen letzten Sommermorgen in Ketchum, Idaho, damit beendete, sich, fast 62 Jahre alt, das Hirn mit einer doppelläufigen Schrotflinte wegzupusten, hatte seine übermächtige Legende den Kampf in seiner Seele gewonnen. Was von ihm blieb, war der Bilderbuch-Mythos, umrahmt von testosterontriefendem Kitsch. Das Abziehbild, die Illustriertenfotos. Macho, Abenteurer, Moralist. Papa, der Schluckspecht. Papa, der Weiberheld. Und vor allem: Papa, der ganze Kerl. Der hardboiled Autor mit gusseisernen cojones , Held und fleischgewordenes Prinzip seiner These "Schreiben ist das Härteste, was es gibt". Darauf einen Daiquiri. Oder gleich zwei bis fünf.

Er musste als Vorbild für alberne Ähnlichkeitswettbewerbe von trinkfesten Graubärten in Ringel-T-Shirts herhalten, die zu Fotomotiven in Florida und auf Kuba wurden, als Doppelgänger nur echt mit Schwertfisch. In Pamplona benannte man eine Straße nach dem Stierkampf-Vergötterer. Es gibt an jeder wichtigeren Station seines Lebenslaufs Saufrunden für Touristen durch die Bars und Hotels, in denen der Literatur-Nobelpreisträger seine Minimalprosa in die Schreibmaschine gerammt hatte. In jedem Bellini, den Harry's Bar in Venedig serviert, ist der Nachgeschmack durchzechter Bohèmien-Nächte mit Hem, seinen Kumpels und Geliebten im viel zu hohen Preis inbegriffen.

Quasi im Alleingang hatte Hemingway Paris im Zweiten Weltkrieg von den Nazis befreit, um in der Bar des Ritz mit Drinks in jeder Hand auf den schlappschwänzigeren Rest der Truppen zu warten. Im Ersten Weltkrieg war er als junger Lazarettfahrer verletzt worden und ließ sich angeblich aus den Schrapnell-Splittern, die man aus seinem Bein holte, einen Ring machen. Die Geschichte dieser Verletzung blies er immer weiter auf, um daheim Eindruck als todesmutiger Kriegsheld zu schinden.

Als junger Lokalreporter beim "Kansas City Star" hatte er das Handwerk von Grund auf erlernt. Während seiner ersten guten Jahre in Paris hatte er geschrieben wie ein junger Gott. Das gab sich mit der Zeit. Seinen Schreibstil hatte Hemingway im Laufe der Jahre hingerichtet, er hatte ihn als Kapitulation vor dem Überdruck von außen zur Parodie gerinnen lassen. Die Selbstinszenierung wurde überlebensgroß in der Starautor-Ära, in der er fischte, schoss, soff, Frauen flachlegte und prahlte, als gäbe es nach jedem Gimlet-Gelage kein Morgen mehr. "Schreiben bedeutet bestenfalls ein einsames Leben. Verzichtet der Schriftsteller auf seine Einsamkeit, so gewinnt er an öffentlichem Ansehen, häufig verliert er dann aber sein Werk. Denn arbeiten muss er doch allein. Und wenn er ein guter Schriftsteller ist, muss er der Ewigkeit oder dem Vergessen jeden Tag ins Auge blicken." Hemingways Biograf Kenneth Lynn kam zu diesem Resümee: "Der Kampf, in dem er am Ende geschlagen wurde, war der mit sich selbst. Er stand auf so verlorenem Posten, dass man sich wundern muss, wie lange er ihn ausgehalten hat."

Wie Cézanne malte, so wollte Hemingway ein Leben lang schreiben. Klar, gut beleuchtet, auf den Punkt. Es gelang ihm anfangs gut, dann immer besser, dann, mit zunehmendem Ruhm, immer schlechter. Die Selbstqual wurde von Erfolg zu Erfolg größer, die Schreibblockade immer hartnäckiger. Etwas Schlimmeres als der Nobelpreis, der ihn 1954 endgültig zu einem Popstar des Literaturbetriebs machte, hätte ihm kaum passieren können. Ein Hemingway-Verächter maulte posthum über dessen Bücher, die sich mit zunehmendem Chauvinisten-Alter immer öfter zu stillen Tagen ins Klischee flüchteten: "Es müffelt unentwegt nach schweißgegerbten Lederjacken, Stierkampfmachismo und Eigentlichkeitspathos." Hemingway mag ein Frauentyp gewesen sein, ein Frauenautor ist er nicht.

Vladimir Nabokov bezeichnete ihn despektierlich als "Autor für Knabengeschichten", als ob seine eigene "Lolita" nicht auch in eine problematische Kategorie fiele. Wolf Wondratschek, wie Hemingway glühender Boxsport-Bewunderer, schrieb im Männer-Fachblatt "Playboy" zum 100. Geburtstag demütig: "Es ist die Siegesgewissheit seines Stils, dieser Manierismus der kurzen und klaren Sätze, die ihn unsterblich gemacht haben. Dem menschlichen Schicksal setzte er das Maß seines Stils entgegen."

Manche Autoren kommen irgendwann in Mode, andere Autoren kommen aus der Mode. Klassiker bleiben, weil ihre Antworten auf immer wieder neue Fragen passen, die wir ihnen stellen. Kafkas verzweifelter Sarkasmus erklärt einem die subtilen Grausamkeiten der Arbeitswelt von heute. Der Herzensbrecher Tolstoi schildert auch die leise seufzende Tristesse im Laptop-Dämmerlicht des Facebook-Alltags. Schillers stürmend drängende Dramen sind der Stoff, aus dem Jugendrevolten werden können. Shakespeare weiß, was sich Menschen mit und ohne Macht wünschen und warum sie es deswegen partout nicht bekommen.

"Irgendwann ist man begeistert von Hemingways Stil, von seinen knappen Sätzen, seinem Lebenshunger", meint Rainer Moritz, Chef des Hamburger Literaturhauses. "Später stößt einen das ab, findet man, dass er es sich mit den einfachen Sätzen zu einfach gemacht hat und dass sich hinter dem Lebenshunger ein penetranter Machismus verbirgt. Und noch mal später habe ich ein paar seiner Bücher wieder gelesen und gedacht: Ein schlechter Autor ist das nicht. Vor allem in seinen Erinnerungen ,Paris, ein Fest fürs Leben'."

In seinem Leben war Hemingway in fünf Kriegen und Bürgerkriegen. Er hat Zusammenbrüche und Wiederaufbau kommen, Ängste und Hoffnungen schwinden gesehen. Wie hält man so etwas aus, immer wieder? Wie wird man tapfer und heldenhaft, und, was noch wichtiger ist, wie bleibt man es, nachdem das scheinbar Schlimmste überstanden ist? Bei Hemingway lässt sich das in seinen aufs Nötigste reduzierten Sätzen nachlesen.

"In seinen Texten ist viel Menschliches, das ist etwas, das nicht verloren geht", findet Werner Schmitz. Er hat "Paris, ein Fest fürs Leben" gerade neu übersetzt, jenes Buch über die Zeit, in der Ernest Hemingway zu dem wurde, was später ERNEST HEMINGWAY ausmachte. "Männer wie ihn gibt es nur sehr selten", sagt Schmitz über ihn, "und wenn, dann schreiben sie nicht."

Die Sinn suchenden Männer, die es heute gibt, sind oft aus ganz anderem, oft nicht allzu hartem Holz. Einige kuscheln sich zu den besinnlichen Vokal-Harmonien der "Fleet Foxes" ins politisch korrekte Flanellhemd und streichen sich dabei versonnen über den kunstvoll gepflegten Holzfällerbart.

Andere Exemplare leiden unter den Spätfolgen der Rezession, angeblich so sehr, dass das US-Magazin "Newsweek" ihnen kürzlich eine Titelgeschichte widmete. Es taufte die siegessicheren BMW-Fahrer von einst sardonisch in "BWMs" um, "beached white males". Gestrandete weiße Männer, mitsamt Designer-Anzug und Aktenkoffer von den Wellen des Schicksals ans Ufer des Berufslebens gespült. Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Mittelalt, mittelmäßig, mäßig interessant. Genau der lauwarme Durchschnitt, der Ernest Hemingway ein Leben lang nie sein wollte.

Nachdem sein Vater sich 1928 mit einem Revolver erschossen hatte, schickte seine Mutter dem Sohn die Waffe per Post, zusammen mit einem Kuchen. "Ist Sterben schwer, Daddy?", ließ Hemingway vier Jahre zuvor einen Jungen in "Indianerlager" staunend fragen, in einer seiner besten, härtesten, sanftesten Erzählungen. "Nein, ich glaube, es ist ziemlich leicht, Nick", kommt von seinem Vater als Antwort zurück. So einfach kann das Ganze sein. So schrecklich.